Der vergessene Reaktor
Proteste gegen atomare Forschungsanlage in Wannsee / Stilllegung »in etwa 15 Jahren«
Skepsis wegen Berlins einziger Atomanlage ist in Wannsee weit verbreitet. In der Nähe des dortigen Forschungsreaktors hängt an einem Haus ein Transparent mit der Aufschrift: »Kein Flugverkehr über nuklearem Forschungsreaktor Wannsee!« Anwohner Wolf Schmidt fühlt sich von den Behörden nicht genug aufgeklärt: »Das war lange gar kein Thema. Vor allem die Potsdamer wussten gar nichts.« Der ebenfalls seit über zehn Jahren im Bezirk lebende Lorenz Bauer meint: »Je schneller der Reaktor abgeschaltet wird, desto besser.« Es gibt jedoch auch andere Meinungen. Professor Horst Kramer etwa hat festes Vertrauen in die Sicherheitskonzepte. Der wissenschaftliche Wert der Anlage werde allerdings häufig übertrieben.
Aktivisten wollen am Wochenende erneut unter dem Motto »Stilllegung aller Atomanlagen!« auf die Straße gehen. Ihr Unmut richtet sich eine Woche vor dem Jahrestag der Katastrophe von Fukushima gegen eben jenen Forschungsreaktor. Die vom Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) betriebene Anlage erzeugt keinen Strom, sondern liefert Neutronen für die Erforschung von Materie, so in den Bereichen Chemie, Metallkunde oder Festkörperphysik.
Das »Anti-Atom-Bündnis in Berlin und Potsdam« (AAB) will mit einer Doppelkundgebung in beiden Städten für die Abschaltung der Atomanlage demonstrieren. »Wir wollen Aufmerksamkeit auf den Reaktor lenken, über den immer noch viel zu wenige Bescheid wissen«, sagt Hauke Benner vom AAB. Sie ließen sich nicht mit dem Verweis auf die geringe Wahrscheinlichkeit von Unfällen abspeisen. »Nach Fukushima sind Wahrscheinlichkeitsrechnungen Makulatur«, so Benner weiter. Die Gutachter, die dem Reaktor für weitgehend sicher erklärt hatten, hätten eine zu große Nähe zur Atomindustrie. Der Katastrophenplan des HZB sei technisch kaum durchführbar. Für eine sichere Zwischenlagerung des Atommülls sei ebenfalls nicht gesorgt. Laut Brenner werde alles in allem die Bevölkerung zugunsten des »Wissenschaftsstandorts Berlin« unnötig gefährdet. Unterstützt wird der Protest von Gliederungen der Linkspartei.
Laut HZB ist der Reaktor eine »einzigartige Experimentiermöglichkeit« und wird international nachgefragt. Er habe nur den Bruchteil der Leistung eines AKW und sei schon aufgrund der Bauweise weniger störanfällig. Demgegenüber stehen allerdings 66 meldepflichtige Ereignisse, zehn davon Störfälle. Damit führt Berlin die Fehlerstatistik aller Forschungsreaktoren an.
Natürlich seien die betroffenen Forschungsfelder wichtig, beteuert Carmen Schultze, Pressereferentin beim Landesverband Berlin des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Der Bund solle jedoch ein Konzept für die kooperative Nutzung alternativer Neutronenquellen erstellen. »Für die Landesebene ist das ein zu großes Fass«, sagt sie. Länger als die vom Betreiber angekündigten 15 Jahre solle die Anlage auf keinen Fall mehr laufen.
In der Berliner Parteienlandschaft haben sich bisher einzig die Piraten für eine »langfristige Abschaltung« des Reaktors ausgesprochen. Die LINKE will das Thema auf ihrem nächsten Landesparteitag diskutieren. Wichtig sei der politische Druck für die Stilllegung, so Schultze weiter. »Klagen haben dagegen leider wenig Chancen.«
Im Jahr 2011 sind nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima alle Atomanlagen in Deutschland Sonderüberprüfungen unterzogen worden. Der im Oktober fertiggestellte Bericht attestierte dem HZB ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Am ehesten gefährdet sei die Anlage durch den Absturz größerer Flugzeuge, ein Betonmantel (»Containment«), der beim Neubau von Atomanlagen vorgeschrieben ist, fehlt. »Eine Nachbewertung der Absturzwahrscheinlichkeiten«, nach Aufnahme des Betriebs des neuen Flughafens »Willy Brandt«, sei »sinnvoll«.
Der Senat kündigte Korrekturen des Sicherheitskonzepts an. Nachdem er wegen Umbauten vorübergehend stillgelegt war, soll der Reaktor noch im März wieder in Betrieb gehen.
Die Kundgebungen finden am Samstag um 11 Uhr am Mexikoplatz (Berlin) und am Rathaus Babelsberg (Potsdam) statt.
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