Arme Kinder an der Ruhr?
Carolin Butterwegge über Ursachen und Folgen der Kinderarmut
nd: Das Ruhrgebiet ist, was Kinderarmut betrifft, Deutschlands »Problemzone Nummer eins«, sagt der Paritätische Gesamtverband. Jedes vierte Kind unter 15 Jahren lebt dort von Hartz IV. Was sind die Ursachen?
Butterwegge: Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse verschlechtert die Lebensbedingungen, das gilt insbesondere für prekär Beschäftigte und ihre Angehörigen, Familien mit vielen Kindern, mit Migrationshintergrund und Alleinerziehende. Die soziale Spaltung ist im Ruhrgebiet besonders dramatisch. Die einstige Kohle- und Stahl-Region muss weiterhin den wirtschaftlichen Strukturwandel bewältigen. Insofern ist die Arbeitslosenquote dort besonders hoch, überproportional viele Menschen leiden unter prekärer Beschäftigung und es gibt viele Stadtteile, die von massiver Armut betroffen sind.
Besonders stark, nämlich um fast 40 Prozent seit 2005, stieg die Kinderarmuts-Quote in Mülheim an der Ruhr. Die Heimatstadt von Ministerpräsidentin Kraft ist - ruhrgebietsuntypisch - von der Millionärsdichte her mit Hamburg oder München zu vergleichen. Doch täglich reihen sich fast 1000 Menschen in die Schlange ein, um Lebensmittel von der »Tafel« zu erwerben. Drohen da nicht soziale Konflikte?
Das ist zu befürchten, wenn die Perspektivlosigkeit unter Jugendlichen und sozial Abgehängten weiter um sich greift. Die Lebenschancen armer Kinder sind schon im Vorschulalter massiv eingeschränkt. In der Schule verstärken sich die sozialen Unterschiede: Arme Kinder werden viel eher auf Förderschulen abgeschoben, erwerben im Schnitt niedrigere Schulabschlüsse, haben häufiger Gesundheitsprobleme...
... und irgendwann werden aus armen Kindern arme Eltern ...
... wenn die Gesellschaft nicht gegensteuert. Frühe Fördermaßnahmen, ein kostenloses Bildungssystem, vernetzte Hilfsangebote für Kinder und Familien vor Ort, ein kostenloses Mittagessen in der Schule - es gibt viele Ansatzpunkte. Doch die Kinder werden in NRW mit ihrer Armut allein gelassen.
Die rot-grüne Landesregierung betreibt »präventive Sozialpolitik«. Reicht das aus?
Präventive Sozialpolitik, je früher im Lebensalter, desto besser, ist nicht falsch: Es soll bereits im frühen Kindesalter verhindert werden, dass sich die Risiken negativ manifestieren. Hinzukommen muss aber die sozialstaatliche Intervention, müssen Hilfsangebote für Kinder und Familien, die bereits in Armut leben. Doch bestehende Unterstützungsangebote werden gerade zurück gefahren - wegen leerer öffentlicher Kassen. Das betrifft eigentlich den gesamten sozialen Bereich. Die sozialen Dienste in den Jugendämtern sind bereits jetzt völlig überfordert. Sie können der steigenden Kindeswohlgefährdung nicht mehr angemessen begegnen. Wir brauchen eine Umverteilungspolitik als übergreifende Maßnahme.
Arme öffentliche Hand, arme Kinder: Wie populär sind Umverteilungsforderungen denn bei SPD und Grünen in NRW?
Verbal fordern SPD und Grüne auch in NRW eine Vermögenssteuer. Doch als die LINKE in NRW beispielsweise 1000 zusätzliche Steuerprüfer vorschlug, um die Einnahmen der öffentlichen Hand zu stärken, stellte die Landesregierung nur 200 ein.
Interview: Marcus Meier
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