Doppelte Entwertung

  • Robert Kurz
  • Lesedauer: 3 Min.
»Großbankrotte wie bei der Drogeriekette Schlecker kündigen einen neuen Schub in der Entwertung des Sachkapitals an.«
»Großbankrotte wie bei der Drogeriekette Schlecker kündigen einen neuen Schub in der Entwertung des Sachkapitals an.«
»Großbankrotte wie bei der Drogeriekette Schlecker kündigen einen neuen Schub in der Entwertung des Sachkapitals an.«

Was ist der tiefste Grund von ökonomischen Krisen? Oft wird gesagt, der produzierte Wert könne mangels Kaufkraft nicht realisiert werden. Aber warum gibt es zu wenig Kaufkraft? Weil zu wenig Wert produziert wird und deshalb die regulären Löhne und Profite zu gering sind. Und warum wird zu wenig Wert produziert? Weil die Konkurrenz auf dem Weltmarkt durch technologische Entwicklung und betriebswirtschaftliche Kostensenkungsprogramme zu viel Arbeitskraft überflüssig gemacht hat. Es ist aber gerade die Arbeitskraft als Kapitalbestandteil, die allein neuen Wert produziert. Insofern ist ihre Freisetzung nicht bloß ein Problem für die Betroffenen, sondern ein Problem des kapitalistischen Systems.

Die Krise beginnt mit der Entwertung von Arbeitskraft. Wenn mit immer weniger Arbeitskraft immer mehr Waren produziert werden, sinkt auch deren Wert. Und es entstehen Überkapazitäten. Jetzt werden auch die Waren entwertet. Immer mehr Unternehmen gehen bankrott oder müssen Fabriken schließen, deren Sachkapital (Produktionsmittel) ebenfalls der Entwertung anheimfällt. Wenn nicht neue Produkte wieder Massen von Arbeitskraft mobilisieren, eskaliert die Krise in einer Entwertungsspirale.

Eigentlich haben wir es heute weltweit mit einem solchen Prozess zu tun. Aber die Krise wurde angestaut. Verschuldungs- und Finanzblasen schienen auch ohne Anwendung von Arbeitskraft neuen Wert ohne Ende hervorbringen zu können. Seit sich das Geldkapital in Finanzkrächen und Schuldenkrisen zu entwerten beginnt, sind die Notenbanken in die Bresche gesprungen. Sie pumpen weltweit aus dem Nichts geschöpftes Geld mit immer längeren Laufzeiten in das Bankensystem. Die Europäische Zentralbank hat in zwei Tranchen binnen eines Vierteljahrs mehr als eine Billion Euro an die Banken verteilt. Der größte Teil dieses Geldes verhindert die Entwertung der faulen Kreditmasse, hält die maroden Bilanzen von Banken wie Konzernen über Wasser und treibt die Aktienkurse. Damit wurde ein gewaltiges Inflationspotenzial aufgebaut, das vorläufig im Finanzüberbau verharrt.

Auf der anderen Seite reicht aber der Stau bei der Entwertung von Schulden und Wertpapieren allein nicht aus, um die Entwertung der realen Kapitalbestandteile weiter aufzuschieben. In der EU hat die Arbeitslosigkeit den höchsten Stand der Nachkriegsgeschichte erreicht. Die Ökonomie der Schuldenstaaten stürzt ab und droht die Weltkonjunktur mitzureißen. Großbankrotte wie bei der Drogeriekette Schlecker kündigen einen neuen Schub in der Entwertung des Sachkapitals an. Die französische Autoindustrie steht auf der Kippe, in Deutschland geht Opel schon wieder die Luft aus.

Sobald sich die Geldschwemme der Notenbanken über die Rettung der Bilanzen hinaus in reale Nachfrage verwandelt, wird das Inflationspotenzial abgerufen. Weil die Krise so lange angestaut wurde, könnte es sogar sein, dass erstmals in der Geschichte des Kapitalismus gleichzeitig eine Entwertung des Geldmediums und großer Teile des Kapitals stattfindet. Dies würde bedeuten, dass die »auf dem Wert beruhende Produktionsweise« (Marx) als Ganzes ihren historischen Bankrott anmeldet, weil sie keine gesellschaftliche Reproduktion mehr tragen kann.

In der wöchentlichen nd-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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