Menschliche Spuren
Vier Künstler aus Litauen stellen in der Werkstattgalerie aus
Kunst aus dem Baltikum findet eher selten den Weg in unsere Breiten. Die Werkstattgalerie ist gerade dabei, diesen Zustand zu ändern. Am Anfang stand schlicht die Teilnahme an einer der wenigen Kunstmessen in Osteuropa. Bei »Art Vilnius« zeigte die Galerie an der Eisenacher Straße ihre assoziierten Künstler und traf baltische Künstler, Kuratoren und Professoren. Das war die Initialzündung für die Idee eines Austauschprogramms. So wie einige in der Werkstattgalerie vertretene Künstler etwa in der Kunstakademie Vilnius ausstellen, bietet sich baltischen Kollegen ein Podium, sich in Berlin zu präsentieren. Jeweils sechs Wochen laufen die Expositionen, sind durch Unterstützung der Botschaften ihrer Länder hochrangig legitimiert. Den Beginn in Berlin liefern vier Künstler aus Litauen mit einer beinahe melancholischen Zusammenschau dessen, was sie als »Die beiden Seiten der Leere« thematisieren.
Mit Jahrgang 1961 ist Remigijus Treigys ältester des Quartetts. Seinen Arbeiten widmet sich der erste Galerieraum. Alle Fotos bearbeitet er bei der Belichtung in der Entwicklungskammer sehr speziell. Kratzer schrammen über das stets grobkörnig gehaltene Motiv, weiße Flecke rastern es, jeder Abzug wird so zum Unikat. Die physische Abwesenheit des Menschen in der Umgebung ist sein Thema, doch freilich hat der Mensch in den abgelichteten Sujets Spuren hinterlassen. Da führt ein Weg scheinbar ins Nichts, ist kurz vorm Ende zu beiden Seiten von metallenen Stützen wie beim Eintritt in ein Schwimmbassin flankiert. Wasser indes ist nicht auszumachen. Da führen Stufen in der Bildmitte auf ein dunkles Tor zu; was sich dahinter verbergen könnte, bleibt Rätsel. Oder man fährt mit dem Blick die Fensterfront eines Fabrikgebäudes ab, erkennt Gleise und Bogenlampen; wo der Weg dazwischen endet, und ob dem Objekt bald der Abriss droht, kann man nur mutmaßen. Vor einer bräunlichen Mauerstruktur platziert Treigys ein Sofa und lässt an der Wand helle Flecken aufscheinen, wie sie Bilder hinterlassen haben könnten. Auch die fünf hoch an einem kaum klar auszumachenden Hintergrund hängenden Kutten oder Säcke auf einer anderen Fotografie erinnern an Rückstände von verblasster Wohnlichkeit. In seinen kleinquadratischen Exponaten verweigert Treigys gänzlich das Gegenständliche: Schwarze Räume schließen sich jeglichem Einblick, triumphiert Leere mit einem ungewissen Dahinter.
Ins Malerische transponiert Agne Jonkute ein ähnliches Prinzip. Ihre vier großformatigen Gemälde im zweiten Raum füllt Grau in Abstufungen, die räumliche Tiefe durch Hell- und Dunkelteile oder perspektivisch schräge Linien bestenfalls ahnbar machen. Wie in einen Sog ziehen die nach Fotos entstandenen Werke den Betrachter, laden zum Verweilen und zum Eintauchen in eine bei aller bewussten Undeutlichkeit lichte Welt eines verborgenen Seins. Wie Treigys erhielt auch die Enddreißigerin Agne Jonkute zahlreiche Stipendien und Preise und hatte Einzelausstellungen bis nach Japan. Etwas jünger nur sind Brone Neverdauskiene und Monika Zaltauskaite-Grasiene, deren hintergründige Installation »Absolute Gleichheit« den dritten Raum auch im vollen Wortsinn ausfüllt. Neun nur beim ersten Eindruck gleiche Overalls, alle arm- und beinlos, baumeln an der Decke. Bei näherem Hinsehen erkennt man feine Unterschiede.
Obzwar die Farben Schwarz und Grau dominieren, sind jene menschenleeren Hüllen verschieden appliziert. Gewebt sind sie mit ganz unterschiedlicher Musterung in Jacquard-Technik, und zwar nach den Fotos realer Personen. Deren Muskelrundungen, Hautfalten und Körperwölbungen geben die Hüllen exakt wieder. Damit nicht genug, versehen sie die beiden Künstlerinnen auch mit Namen und wohl eher fiktiven Biografien. Alexandra, vier Monate alt, wird Schauspielerin, weist ein Schild aus; Leila, sechs Monate alt, droht die Zukunft einer Spielerin, Leila, das drei Monate alte Zigeunermädchen, wird Schicksalsdeuterin. Ich bin Alkoholiker, verkündet ein Namenloser; Georg, fünf Monate alt, wird Polizist mit Nazigesinnung, Erna, sechs Monate alt, homosexuelle Stadträtin. Auf diese Weise räumen Neverdauskiene und Zaltauskaite-Grasiene mit dem Phantasma von der Gleichheit aller Menschen auf: Schon im Babyalter beginnen sich die ganz verschieden determinierten Unterschiede auszuprägen, bestimmen den Lebensweg. Auch dies eine Erkenntnis. Künstler aus Estland und wieder Litauen stellen demnächst an der Eisenacher Straße aus.
Bis 17.3., Werkstattgalerie, Eisenacher Str. 6, Kreuzberg, Telefon 21 00 21 58, www.werkstattgalerie.org
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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