War Einstein intelligenter als Picasso?

US-Wissenschaftler behauptet: Jeder Mensch verfügt über mindestens acht autonome Intelligenzen

Nach den Vorstellungen der klassischen Entwicklungspsychologie sollen Kinder in der Schule vor allem die Fähigkeit erwerben, wie Wissenschaftler zu denken. Erst allmählich setzt sich in der Pädagogik die Erkenntnis durch, dass es auch »außerwissenschaftliche« Intelligenzen gibt, deren Förderung für eine Gesellschaft von existenzieller Bedeutung ist.

Jede Kultur entwirft ihr eigenes Idealbild vom Menschen. In den westlichen Gesellschaften gilt vor allem Intelligenz als erstrebenswerte Eigenschaft, obwohl bis heute niemand genau sagen kann, was das eigentlich ist. Traditionell wird ein Mensch als intelligent bezeichnet, wenn er gute bis sehr gute Leistungen in der Schule erbringt: in Mathematik, Geschichte, den Naturwissenschaften, den Sprachen. Dahinter steht die Auffassung, dass Intelligenz eine ganzheitliche, homogene Eigenschaft ist, die in einem speziellen Test gemessen und durch den so genannten Intelligenzquotienten (IQ) numerisch ausgedrückt werden kann. Obwohl dieser Test häufig zuverlässige Prognosen über den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen erlaubt, stoßen manche Menschen mit hohem IQ sowohl in der Schule als auch später im Beruf auf Schwierigkeiten, den vorgegebenen Anforderungen zu genügen. Allein in der Wirtschaft gelten vielfach andere Intelligenzkriterien als beispielsweise an einer Universität. Ob jemand in der Lage ist, komplizierte Arbeitsprozesse zu beherrschen, geschäftliche Möglichkeiten und Risiken zu erkennen und kooperativ mit Kollegen umzugehen, lässt sich aus seinem IQ-Wert nur schwerlich ablesen. Menschen besitzen demnach Fähigkeiten, die sich den Instrumentarien der klassischen Testpsychologie weitestgehend entziehen. 1995 popularisierte der amerikanische Psychologe Daniel Goleman den Begriff »emotionale Intelligenz«, um die Begabung eines Menschen im Umgang mit sich selbst und anderen zu beschreiben. Sowohl im Beruf als auch im Alltag sei es wichtig, so Goleman, über das eigene Gefühlsleben Klarheit zu gewinnen und die Gefühle anderer Menschen zu verstehen. Seither gilt emotionale Intelligenz - im Gegensatz zum vermeintlich kalten Verstand - als etwas prinzipiell Gutes, zumal Golemans Theorie suggeriert, dass ein emotional intelligenter Mensch notwendigerweise das gesellschaftliche Zusammenleben befördere. Ein Trugschluss, wie Harvard-Psychologe Howard Gardner meint: Erstens sei jede Art von Intelligenz, auch die rationale, mit Emotionen verbunden. Und zweitens könne jemand, der die Gefühle anderer zu lesen verstehe, auch manipulieren, täuschen oder Hass säen. Nach Gardner verfügt jeder Mensch über eine ganze Palette von geistigen Fähigkeiten, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Das heißt: »Die Stärke eines Individuums auf dem einen Gebiet sagt nichts über seine Leistungsfähigkeit auf einem anderen Gebiet.« Albert Einstein zum Beispiel leistete Geniales in der Physik, hatte aber große Schwierigkeiten, fremde Sprachen zu erlernen. Pablo Picasso war hingegen ein begnadeter Maler und Bildhauer, dem das wissenschaftliche Denken stets fremd blieb. Wer von beiden war nun intelligenter? Da sich eine solche Frage kaum sinnvoll beantworten lässt, betrachtet Gardner die unterschiedlichen geistigen Fähigkeiten eines Menschen nicht - wie in der Psychologie üblich - als Begabungen, sondern unmittelbar als Intelligenzen, von denen er acht genauer benennt: sprachliche, logisch-mathematische, räumliche, naturkundliche, musikalische, körperlich-kinästhetische, interpersonale, intrapersonale. Während die ersten drei im IQ-Test charakteristisch erfasst werden können, fallen die letzten beiden mit Golemans Beschreibung der emotionalen Intelligenz zusammen, sofern man daraus nicht sogleich ein wünschenswertes Verhalten ableitet. Erfahrungsgemäß benötigt eine Gesellschaft, um zu funktionieren, alle menschlichen Fähigkeiten und Talente. Dennoch wird in der Schule hauptsächlich das sprachliche und logisch-mathematische Denken trainiert und in Tests abgefragt. Diese Bevorzugung zweier Intelligenzformen führt nach Gardner zu einer »essenziellen Ungerechtigkeit« im Unterricht. Denn Kinder, deren Denken weniger sprachlich bzw. logisch strukturiert ist, werden in der Schule immer glauben, sie seien dumm. Damit nicht genug haben sie auch schlechtere Berufschancen, da diese ebenfalls von den Schulergebnissen abhängen. Es wäre mithin gerechter, schon in der Schule die verschiedenen Intelligenzen zu fördern, und zwar so, dass jedes Kind die Möglichkeit erhält, seine geistigen Potenziale effektiv auszuschöpfen. Natürlich sollten alle jungen Menschen die Geschichte kennen, die Prinzipien von Algebra und Geometrie sowie die Gesetze der belebten und unbelebten Natur. Nur: Die Verpflichtung auf ein bestimmtes Maß an Allgemeinbildung heißt nicht, dass jeder Schüler diesen Stoff auf die gleiche Art erlernen bzw. rekapitulieren muss. Deshalb schlägt Gardner in seinem jüngsten Buch »Intelligenzen« alternative Strategien der Wissensvermittlung vor, die sich an den jeweiligen Stärken der Kinder orientieren. So wie manche am liebsten aus Geschichten lernen, eignen andere sich Wissen vor allem bei praktischen Tätigkeiten oder beim Umgang mit Zahlen und Tabellen an. Hat ein Schüler ein Problem auf seine Weise erst einmal verstanden, fällt es ihm leichter, es daraufhin auch aus anderen Perspektiven zu beleuchten. Bleibt die Frage, ob ein derart individueller Unterricht zeitlich überhaupt durchführbar ist. Gardner bejaht dies mit Verweis auf das inzwischen breite Angebot an intelligenzspezifischer Software, das Schülern Gelegenheit gibt, sich zahlreichen Lernstoffen auf didaktisch unterschiedlichen Wegen zu nähern. Zudem ist das Lernen am Computer fehlerfreundlich, da es Misserfolge bei individuellen Denkversuchen nicht bestraft. Leider werden diese pädagogischen Möglichkeiten bislang kaum genutzt. Mit der Konsequenz, dass Schule auch weiterhin nach einem einzigen Intelligenztypus selektiert, der sich bei der Lösung gesellschaftlicher Pr...

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