Des Lebens Fülle

Markus Wolf: »Freunde sterben nicht« - ein Buch der Erinnerung und der Sehnsucht

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.
Stimmen aus dem Dunkel. Von den Freunden, über die hier erzählt wird, sind viele schon tot. »Freunde sterben nicht« - eine Behauptung der Sehnsucht. Das Buch - ein Totengedenken. Es stimmt: Was vom anderen in einem selber ist, bleibt lebendig. Doch es bedarf bewusster Anstrengung, es zu erhalten. Sich erinnern bis in die Kleinigkeiten, an Worte, Gesten, und das immer wieder. Ein Buch, das Markus Wolf für sich selbst geschrieben hat, für die eigene Seele, von dem er aber auch wusste, dass es anderen seine Person vor Augen führt. Jahrzehntelang sahen nur Vertraute sein Gesicht. Und jetzt völlig ungeschützt? Gibt es denn in diesem Falle den unvoreingenommenen Leser überhaupt? Markus Wolf ist nun mal eine Gestalt der Zeitgeschichte und als solche stilisiert. Die Zeitungen bilden ihn noch immer gern im Trenchcoat und mit Sonnenbrille ab. Der Spionagechef. Wer weiß, was er zu sagen wüsste! Gier nach Enthüllungen, die dann wieder umschlägt in Wut. Über seine Abgehobenheit. Abgesehen von seiner Profession, seiner Vergangenheit, allein solch eine Haltung schon fordert die Umwelt heraus. Wie dieses Buch verstanden wird, hat nicht nur eine politische Seite: wie der Leser damals zum Autor stand und in welcher Situation er sich heute befindet, ob er Schuldgeständnisse erwartet oder, im Gegenteil, darauf empfindlich reagieren würde. Stärker vielleicht noch wirkt eine ganz persönliche Konstellation: wie der einzelne Leser zu sich selber steht, ob er dem Text aufgeschlossen gegenübertritt oder - aus den unterschiedlichsten Gründen - auf Distanz geht. »Die Troika«, Markus Wolfs erstes Buch, traf da 1989 auf eine vollkommen andere Situation. Der Autor mochte vielleicht vornehmlich seinen literarischen Anspruch gesehen haben - hier nennt er es seinen »Start als Schriftsteller« - , bei Lesungen wurde er aber weniger als Literat empfangen, sondern als einer, der Durchblick hat, vielleicht gar etwas bewegen könnte, zumal er aus seiner Sympathie für eine »Perestroika« des erstarrten Systems keinen Hehl machte. Es gab diese Zeit, auch wenn das viele heute nicht mehr wahrhaben wollen. Verblendung wars, zu glauben, die DDR könnte erneuert werden als demokratischer Staat mit offenen Grenzen. Romantische Illusion - ich habe mich eine Zeitlang wohl dabei geführt. Aber Markus Wolf mit seinem Einblick Andererseits war mit dem Tod des Bruders und dem Abschied aus dem Dienst manches in seinem Leben in Bewegung gekommen. Wie das im Einzelnen geschah, ist auch aus diesem neuen Buch nur in Andeutungen zu erfahren. Wahrscheinlich wäre es sowieso zu einfach zu sagen: Von da und da an habe ich das und das anders gesehen. Da wird den Freunden in der Erinnerung sehr viel - vielleicht sogar zu viel - abverlangt. In zum Teil recht grundsätzlichen Monologen »ergänzen« sie die Lebensbilanz des Autors. Sie stellen seine Fragen. Äußern Ansichten, denen er widersprechen kann und die trotzdem im Raum stehen bleiben. Jeder gibt das Seine zum untergründigen Gespräch über den Sinn des Lebens hinzu. Durchaus ein literarischer Schachzug, um sich selbst zu offenbaren und doch auch wieder bedeckt zu halten: In den einzelnen Kapiteln, die jeweils mit den Namen der Freunde überschrieben sind, werden bestimmte Erinnerungs- und Problemfelder durchschritten. Das geschieht frei von chronologischem Zwang. Der Autor zeigt sich als Souverän, was für die Komposition des Buches von Vorteil ist, für den Text im Detail jedoch nicht immer. Die Wörter folgen dem Befehl des Ichs, fügen sich exakt in Reih und Glied. Gesagt wird, was gesagt werden soll. Aber die Kraft eines künstlerischen Textes rührt auch daher, dass die Wörter ein Eigenleben haben, dass der Schreibende so auf eine inspirierte geistige Ebene gelangt, dass er sogar selber staunt, was ihm da aufs Papier gerät. Sätze, die aus der Tiefe kommen und in die Tiefe gehen. »Kannst du tanzen? Tanze!«, lässt Markus Wolf seinen schwer kranken Freund Maurice, den französischen Filmemacher und Rebellen, sagen. - Das eben meine ich. Maurice, dieser bunte Vogel, rauschgiftsüchtig, der in vielen revolutionären Bewegungen der Welt zu Hause war - ein ausgeprägter Charakter wie alle Freunde, deren »Leuchtspuren« Markus Wolf hier folgt. Menschen, die in kein Schema passen: Ihn faszinierte gerade das, was sie von ihm unterschied. »Was ist Vertrauen, wie gewinnt man es? Gewiß bedarf es einer Zeit der Prüfung und Erfahrung. Und dennoch verließ ich mich auch im Nachrichtendienst sehr stark auf meine Intuition, das Gefühl.« Das Gefühl, sich auf einen anderen verlassen zu können, liegt dem Buch zu Grunde. Was mich bewegte, ist das Bemühen, die verschiedenen Gesichter von Freunden, ihre ganz unterschiedlichen Gedanken in sich selbst zu integrieren, also auch dem Eigenen noch etwas Anderes hinzuzufügen, dem die Fremdheit genommen ist, weil es ja Freunde sind. Da werden Grenzen überschritten, da werden Brücken gebaut. Was schon in »Die Troika« anklang, dass Freundschaft über geografische und politische Entfernungen hinweg etwas Bereicherndes ist, dass es einen höheren Maßstab gibt jenseits ideologischer Schranken, das verdeutlicht sich auch hier. Bis hin zu verwunderlichen Einzelheiten. Da hat es dem Autor offensichtlich Spaß gemacht, sich die verblüfften Gesichter mancher Leser vorzustellen. Dachte da wer, er sei mit der Zubereitung von dreifacher Ucha zufrieden - wer es nicht weiß: das ist eine russische Fischsuppe der köstlichsten Art - und hätte die Spielchen ganz verlernt? Anderen mag es anders gehen, mich hat's amüsiert, obwohl mir klar ist, dass oft ganz Ernstes dahinter steht. Wer bin ich? Wer will ich sein? Wer hätte ich sein können? Wo komme ich her? Wie bin ich so geworden? Was wollte ich? Was wünschte ich mir jetzt? Was bleibt mir noch vom Leben? Wodurch vermag ich in der Welt zu bleiben? Auch wenn solches Grübeln, wie gesagt, im Buch noch zu selten nach außen dringt, es ist die Voraussetzung des Schreibens gewesen. Und es trägt den Autor weiter - ins Offene. Da rückten mir vor allem jene Freunde nahe, die Markus Wolf mit Ungewohntem konfrontierten. Mag es bizarr erscheinen, dass ein KGB-Mann zum Wunderheiler wird und sich der orthodoxen Kirche verschreibt - »sein Panzerschrank duftete stets nach chinesischem Jasmin, im Kaukasus gesammelten Hagebutten und zahlreichen anderen getrockneten Heilkräutern« - das Leben hält eben immer wieder überraschende Wendungen bereit. Bekenntnisse von Verantwortlichkeit und Schuld finden sich, doch nicht die Zerknirschung, die mancher Rezensent vielleicht sucht. Die Energie, die aus diesem Buch dringt, hat ihre Quelle in der Neugier, der Aufgeschlossenheit für das Noch-Nicht-Gewusste, das Unerwartete, in der Sehnsucht nach des Lebens Fülle, die mit dem Alter vielleicht sogar noch stärker werden kann. Eine selbstbewusste Haltung, die nicht bloß bewahren, gar verteidigen, sondern immer wieder Neues hinzugewinnen will. Da ist »Trauer über die verpaßten Chancen in der Gesellschaft, der wir unsere Fähigkeiten und Energien gaben« und da ist das »vor Sonnenuntergang« umso tiefer empfundene Glück von Freiheit und Freundschaft. Ein Netz des Vertrauens. Und die Hoffnung. Denn auf lange Sicht, so lässt Markus Wolf einen geheimnisvollen Amerikaner - Jim ist wirklich einmalig! - Napoleon zitieren, »auf lange Sicht wird das Schwert immer vom Geist besiegt«.
Markus Wolf: Freunde sterben nicht. Das Neue Berlin. 254 Seiten, gebunden, 17,50 EUR.
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