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»... wie's hier von Versen wimmelt«
FELIX PHILIPP INGOLD: Parforce-Ritt durch 200 Jahre russischer Lyrik
Sie nehmen das Buch zur Hand, schon sind Sie unsicher, verwundert: ob Sie den Titel richtig gelesen? Ja, haben Sie. »Von 2000 bis 1800« reicht diese Sammlung russischer Lyrik, kein Druckfehler, sondern ein hübscher Marketinggag. Beim Blättern merken Sie: Die umgedrehte Chronologie hat Kalkül. Die jüngsten Gedichte sind uns am nächsten, inhaltlich wie formell. »Rußland ist ein alter Kinosaal«, schreibt ein Boris Ryshij im Jahr 2000. »Woran man sich erinnert, ganz egal - / Immer hocken sie im Hintergrund, / Die Veteranen«. Poeten wie Ryshij leben in unserer Welt, sprechen unser Idiom; so sind wir schnell geneigt, sie auf dem Weg durch das lyrische Land zu begleiten.
Die zweite Überraschung: Jede tiefere, ältere Schicht erweitert vorsichtig den Horizont des schon Bekannten. Im Rückwärtslesen fühlt man sich wie ein Archäologe. So ist das also, denken Sie, von einem Aha-Erlebnis ins nächste stolpernd, in dieser Reihenfolge verstehe ich manche verschlüsselte Zeile, und am Ende gefällt mir gar das Fernste, ein Klagelied von Puschkin. »Was kann mein Name für dich sein? / Er wird einst schwinden wie die Wellen, / Die in der Ferne dumpf zerschellen, / Wie nachts ein Laut, der stirbt im Hain.«
Aber beginnen wir beim Leitspruch, einem schlicht »Gedicht« genannten Siebenzeiler von Anna Achmatowa. »Mein Gott, wie's hier von Versen wimmelt, / Von Reimen ist die Welt verstellt. / Die Stille komme über uns - als Himmel, / Und jeder nehme sich ein Lied als Zelt. / Das Schweigen gelte als Erkennungszeichen, / Das insgeheim uns eint als Gleiche / Unter Gleichen ...« Man muss das nicht ernst nehmen: ein lyrisches Stoßgebet, entstanden 1962, das gegen Lyrik polemisiert. Aber dieses »Gedicht« vor der 500-Seiten-Sammlung spricht für sich - für eine überbordende Versproduktion im russischen Sprachraum. In Puschkins Zeit sollen Dutzende Lyrikbände pro Jahr erschienen sein, im späten 19. Jahrhundert sogar Hunderte.
»Als Gruß zu lesen«: Schöpfer der ungewöhnlichen Kollektion ist ein Schweizer Schriftsteller und Übersetzer, der Uni-Professor Felix Philipp Ingold. Der Kulturvermittler hat Großes geleistet. Anthologie heißt »Blütenlese«, Ingold nimmt den Begriff wörtlich. Er hat das Feld für uns erkundet, die weite Wiese russischer Poesie; dann hat er gepflückt und Blumen zu einem Strauß gebunden, der einen Eindruck des ganzen Biotops vermittelt. En passant erklärt uns Ingold das Kunsthandwerk der Blütenleser.
Gut hundert Gedichte aus zwei Jahrhunderten versammelt das Werk, eine feine Vielfalt - Glanzstücke neben Strophen aus leichter Hand, L'art pour l'art vor politischen Statements, das Konventionelle, das Avantgardistische. Wir finden Verse über die Liebe, über Terror und Tod, Revolution und Repression, über Stadt, Landschaft, Vaterland, wir entdecken Beiläufiges unter klingendem Namen und hohe Kunst von Namenlosen. 170 Seiten »Kommentare« erhellen den Hintergrund jedes Autors, jedes Gedichts. Diese Kommentare sind manchmal bittere Lektüre; Dichter wurden eingekerkert und verbannt, etliche hingerichtet.
Vor Beginn der Zeitreise gibt Ingold nützliche Hinweise. Wir lernen: Die Spanne ab 1800 umfasst die ganze kurze Geschichte russischer Poesie. Die Quantität der Produktion schwankte, doch die Qualität blieb stabil. Herausragende Gedichte gab es auch in prosaischen Epochen. Andererseits: Die Menge an Meisterhaftem ist in Phasen lyrischer Konjunktur nicht gewachsen.
Ingold will erfreuen, wohl auch provozieren, so setzt es Hiebe gegen die Konkurrenz. Seit mehr als hundert Jahren werde russische Dichtung auf immer selbe Art vermittelt, mit denselben Autoren, ähnlichen Gedichten. Indes: »Wo Meisterwerk an Meisterwerk sich reiht, kann man bald schon in eine rauschhafte Erschöpfung geraten.« Recht hat der Mann. Kanonisierte Autoren seien »mit nachhaltigem Ruhm so sehr imprägniert«, dass selbst berechtigte kritische Einsprachen das Werk nicht mehr erreichten.
Ermüdung, Langeweile? Nicht mit Ingold und seiner Anti-Anthologie. Die Chronologie ist besonders auffällig, es gibt weitere Besonderheiten: Jeder Autor sollte mit nur einem Gedicht erscheinen (diese Prämisse hat der Herausgeber zum Glück nicht eingehalten). Man findet große Namen - Blok, Charms und Chlebnikow, Jessenin, Lermontow, Mandelstam und Majakowski, Pasternak - , aber einige Heroen fehlen, etwa Jewgeni Jewtuschenko. Und die Klassiker zeigen sich mit eher untypischen Versen. So geraten die Virtuosen »bewußt in ein schiefes Licht«; das gibt schöne Schatten.
Ingold wünscht Kontrast statt Harmonie. Neben den Großen kommen deshalb »abseitige« Dichter zu Wort. Wagritsch Bachtschanjan? Nie gehört. »Die große chinesische Moskauer Kremlmauer« heißt sein Opus von 1982, und es geht so: »BACKSTEIN BACKSTEIN BACKSTEIN BACKSTEIN BACKSTEIN BACKSTEIN« und so fort über eine ganze Seite. Ein weiteres Geschenk an den Leser sind fremdsprachige Versuche russischer Poeten: ein französisches Gedicht von Marina Zwetajewa, je ein englisches von Nabokow und Brodski - und Rilke präsentiert sich mit einem russischen Poem.
Ein Park ist diese Anthologie, ein Labyrinth, lassen Sie sich von Ingold führen und verführen. Und, ja, bitte wundern Sie sich, wenn zwischen Hecken und Wäldchen, Dickicht und Beet, zwischen Schatten und Nacht ein Rätsel erscheint, ein Versmonument des Malers Kasimir Male-witsch, geschaffen 1918, im Jahr nach der großen Revolte: »UHLE ELLE LOYA LI OHNE KON SIEH AN / OHNON KORRI RI KOASSAMBI MA EH NAH LÄSCH / SABNO ORATR TULOSCH KOALIBI BLÄSTOHRJE / TIWO ORÄNE ETBEL«.
Felix Philipp Ingold: »Als Gruß zu lesen«. Russische Lyrik von 2000 bis 1800. Dörlemann Verlag. 535 S., Leinen, 35 €.
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