»Er muss noch viel lernen«

Albrecht Müller über die Gedankenwelt des Joachim Gauck

  • Lesedauer: 6 Min.
ALBRECHT MÜLLER arbeitete für Karl Schiller, Willy Brandt, Helmut Schmidt, leistete Wahlkampfhilfe für Gerhard Schröder. Von 1987 bis 1994 saß er für die SPD im Bundestag... Heute erscheint seine Streitschrift »Der falsche Präsident. Was Pfarrer Gauck noch lernen muss, damit wir glücklich mit ihm werden« (Westend, 63 S., br., 5,99 €). Mit Albrecht Müller sprach KARLEN VESPER.
ALBRECHT MÜLLER, Jahrgang 1938, Sozialdemokrat, Volkswirt und Soziologe. Von 1987 bis 1994 saß er für die SPD im Bundestag. Seitdem ist er Publizist und Berater und betreibt das Internetforum nachdenkseiten.de.
ALBRECHT MÜLLER, Jahrgang 1938, Sozialdemokrat, Volkswirt und Soziologe. Von 1987 bis 1994 saß er für die SPD im Bundestag. Seitdem ist er Publizist und Berater und betreibt das Internetforum nachdenkseiten.de.

● Herr Müller, ein Großteil der an Joachim Gauck geübten Kritik bezieht sich auf seine Ansichten zum Sozialstaat. Man könnte doch meinen, das Sozialstaatsgebot im Grundgesetz wäre in Jesus‘ Sinne, müsste also von einem Theologen, verteidigt werden.

Das ist ein altes Problem. Viele Christen nehmen die Bergpredigt mit ihren menschlichen und sozialen Akzenten nicht sonderlich ernst. Sie halten sich eher an neoliberale Sprüche wie »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Oder, wenn schon aus der Bibel, dann ans Alte Testament mit eher unfriedlichen Parolen wie »Auge um Auge, Zahn um Zahn«.

● Wenn Gauck die Occupy-Bewegung nicht gutheißt - könnte man ihm zu Gute halten, dass er als Christ auf Ausgleich in der Gesellschaft bedacht ist und deshalb Konfrontation ablehnt?

Die Verteidiger Gaucks weisen darauf hin, dass er die Occupy-Bewegung nicht pauschal verdammt, sondern sich gegen die Vorstellung gewandt habe, man könne die Europäische Zentralbank besetzen. Stein des Anstoßes war die Parole »Occupy EZB«. Das hielt er für albern. Es kann schon sein, dass dahinter eine Sehnsucht nach Harmonie steckt. Seine Kritik an der Parole und am Verhalten dieser jungen Leute ist trotzdem sehr problematisch. Junge Leute pflegen andere Formen des Protestes als wir Älteren. Wenn man zur politischen Beteiligung ermuntern will, und das wäre die Pflicht des Bundespräsidenten, dann darf man sich nicht so abfällig über eine Aktion von jungen Menschen äußern - auch dann nicht, wenn man selbst diese Form nicht teilt.

● Können Sie verstehen, warum Gauck rückblickend kein Verständnis für die 68er aufbringt?

Seine Feindseligkeit gegenüber den 68ern ist bezeichnend. Ich möchte daran erinnern, dass Studenten damals die Auslieferung der »Bild«-Zeitung, zu blockieren versuchten. Auch symbolisch sozusagen. Sie haben das getan, weil »Bild« schon damals am Rande der Volksverhetzung operierte und den Konflikt in der Gesellschaft anheizte. Die Blockade war die Protestform der Studenten, entsprach in der Stoßrichtung aber genau dem, was der hoch angesehene Paul Sethe, Mitherausgeber der konservativen »FAZ«, zu Pressefreiheit und Demokratie äußerte: »Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten ... Frei ist, wer reich ist.«

Die 68er hatten eine andere Form des Protestes. Dass Pastor Gauck sie nicht mag und nicht zu würdigen weiß, ist traurig. Denn das war, von ein paar Fehlentwicklungen abgesehen, eine sehr wichtige Bewegung zur Politisierung und politischen Beteiligung vieler junger Menschen. Der kommende Bundespräsident müsste lernen, auch mit dieser westdeutschen Geschichte sachlicher umzugehen. Er muss viel lernen.

● Auch in der Wirtschaftspolitik?

Ökonomische Fragen - zum Beispiel, wie man Arbeitsplätze schafft, jungen Menschen berufliche Perspektiven verschafft, den Euro rettet, mit der Spekulation auf den Finanzmärkten fertig wird - beherrschen heute die politische Diskussion. Der Bundespräsident ist zwar nicht die Regierung, aber er steckt im Netz des Gedankenaustauschs mit Abgeordneten, mit Regierungsmitgliedern, mit Journalisten. Also muss er über ökonomisches Wissen verfügen. Pfarrer Gauck hat davon wenig. Er müsste erst mal eine gute Volkshochschule besuchen oder sich diese ins Schloss Bellevue holen. Im Ernst: Es ist sehr wichtig, dass er sich nicht nur bei jenen neoliberalen Ökonomen erkundigt, die ohnehin die öffentliche Debatte bestimmen und meist den Verbänden der Wirtschaft nahe stehen. Er müsste sich auch bei kritischen Ökonomen sachkundig machen, die die Welt auch aus dem Blickwinkel der abhängig arbeitenden Menschen und der Ärmeren betrachten.

● Sie werfen Gauck unter anderem vor, Popanze aufzubauen - und haben damit auch seine Warnung vor einer nostalgischer Rückschau auf die DDR im Blick.

Gauck polemisiert gegen Besitzstandswahrer, gegen jene, die sich in der sozialen Hängematte gemütlich einrichten. Er polemisiert gegen Kommunisten, so oft und so aggressiv, dass man den Eindruck gewinnt, hinter jeder Ecke stehe ein Kommunist. Mich erinnert dies an die heiße Antikommunismusdebatte der 50er Jahre. Eigentlich hatte ich gedacht - und war froh darüber -, wir hätten diese unselige Zeit hinter uns. Gauck offenbar nicht. Wie gesagt: Er muss noch viel lernen, um Präsident möglichst aller Deutschen zu sein.

● Soziale Kälte zog in Deutschland unter der Regierung Gerhard Schröders ein. Die Agenda 2010 wird von vielen Sozialdemokraten kritisch eingeschätzt. Die Favorisierung Gaucks durch die SPD scheint diese Selbstkritik de facto aufzuheben. Warum haben SPD und Grüne ihn erneut vorgeschlagen? Um die Kanzlerin zu ärgern?

Ich muss zunächst daran erinnern. das die soziale Kälte nicht mit Gerhard Schröder begann. Schon das Lambsdorff-Papier von 1982 und einige gravierende soziale Einschnitte in der Ära Kohl waren von diesem unsozialen Geist geprägt. Sie haben mit Sicherheit Recht damit, dass die Nominierung und vermutliche Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten die selbstkritischen Ansätze in der SPD gefährden könnten. Es wird sich zeigen, dass Gauck mit sozialdemokratischen Werten wenig gemein hat. Mit echten grünen Werten sowieso nicht.

SPD und Grüne hatten 2010 den Vorschlag des Herausgebers des Springer-Blattes »Die Welt«, Thomas Schmid, aufgegriffen, Gauck zu nominieren. Das war aus ihrer Sicht ein geschickter Schachzug, um Angela Merkel in Schwierigkeiten zu bringen. Sie schlugen einen Mann vor, der inhaltlich der CDU/CSU und der FDP nahe steht. Wenn die klug gewesen wären, hätten sie nach dem Rücktritt von Christian Wulff sofort einen anderen Kandidaten, noch besser eine Kandidatin vorschlagen müssen. Jetzt sind sie in der Zwickmühle.

● Haben Sie eine Vermutung, warum Gauck, wie Sie schreiben, »nicht auf der Höhe der Zeit ist«?

Er ist nicht auf der Höhe der Zeit, weil er zu viele Vorurteile pflegt und sich deshalb nicht öffnen kann für die aktuelle geistige Debatte. Von dem Anstoß des französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel mit seinem kleinen Buch »Empört euch!« hat Pfarrer Gauck beispielsweise nichts mitbekommen. Da bleibt für den kommenden Bundespräsidenten noch viel zu lernen.

● Sie waren Wahlkämpfer für Willy Brandt. Die Neue Ostpolitik hat Gauck als »feige Appeasementpolitik« abgestempelt.

Gaucks Äußerungen dazu haben mich besonders betroffen gemacht. Sie sind eine Beleidigung jener Menschen, die auch für die Freiheit von Joachim Gauck den Buckel hingehalten haben. Und für die friedliche Entwicklung von Ost und West sowieso. Dazu gehören übrigens nicht nur Sozialdemokraten: Willy Brandt, Egon Bahr, Herbert Wehner usw.. Zu den Trägern der Ost- und Verständigungspolitik gehörten später auch Christdemokraten wie Richard von Weizsäcker und Norbert Blüm.

● Können Sie mit Gaucks Selbstetikettierung, er sei ein Linker, ein Liberaler und ein Konservativer, etwas anfangen?

Eines kann Joachim Gauck: sich gut verkaufen. Er weiß genau, dass sich Menschen oft nicht entscheiden können. Also präsentiert er ihnen ein buntes Etikett. Dann können sie sich heraussuchen, was ihnen persönlich an ihm passt: Sozialdemokraten das Linke, die FDP das Liberale, Anhänger der Union das Konservative. Wunderbar.

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