Évian bleibt für Frankreich ein Reizthema
Auch 50 Jahre nach seinem Ende wird der Algerienkrieg noch unterschiedlich bewertet
Gemäß den Abkommen von Évian sollte innerhalb von drei Monaten eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit der vormaligen französischen Kolonie Algerien stattfinden. Selbst in Frankreich votierten 90 Prozent der Wähler dafür. Sie sehnten das Ende des Krieges herbei, der auf französischer Seite 28 500 Militärs und 4000 bis 6000 Zivilisten das Leben gekostet hatte. Auf algerischer Seite gab es nach französischen Angaben bis zu 400 000 Tote, während Algier offiziell von 1 bis 1,5 Millionen Opfern spricht. Die in Algerien lebenden Franzosen durften nicht über das Abkommen abstimmen. Im »Mutterland« nannte man sie verächtlich »Pieds noirs« (Schwarzfüße), weil es anfangs oft arme Siedler waren, die barfuß gingen, Die meisten von ihnen waren verbittert darüber, dass Präsident Charles de Gaulle sie »verraten« und das »Französische Algerien« aufgegeben hatte.
Vor Inkrafttreten der Unabhängigkeit Algeriens Anfang Juli 1962 flüchteten fast alle »Pieds noirs« nach Frankreich. Aufgrund erster blutiger Übergriffe durch Einheimische fürchteten sie um ihr Leben. Tatsächlich kamen zwischen 18. März und 5. Juli mehr französische Zivilisten ums Leben als in allen vorherigen Kriegsjahren. Die »Harki« - einheimische Hilfsfreiwillige der Kolonialarmee - wurden von der Pariser Regierung ihrem Schicksal überlassen. Durch Racheakte ihrer Landsleute verloren nach Schätzungen von Historikern bis zu 90 000 »Harki« ihr Leben. Nur wenige Offiziere setzten sich über das offizielle Evakuierungsverbot hinweg und brachten einige tausend Harki und ihre Familien mit Schiffen nach Frankreich in Sicherheit. Dort mussten die meisten noch viele Jahre unter primitiven Bedingungen in Lagern verbringen, bevor sich ihre Lebensbedingungen normalisierten. Auch »Pieds noirs«, die meist mittellos in Frankreich ankamen, fassten nur schwer Fuß. Aus diesen über ihr Schicksal verbitterten Bevölkerungsgruppen gewann die rechtsextreme Front National später viele Anhänger.
Die Beendigung des Kolonialkrieges und die Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens durch de Gaulle war eine von vielen, aber durchaus nicht allen Franzosen als staatsmännisch weise beurteilte Entscheidung. Quer durch alle Schichten und Parteien - auch bei Sozialisten und Kommunisten - bedauerten nicht wenige den »Verlust« Algeriens. Wegen der im Évian-Abkommen festgeschriebenen Amnestie für alle während des Krieges verübten Straftaten, darunter massenhafte Folter von Gefangenen, fand eine Aufarbeitung dieser Ereignisse nicht oder erst viele Jahre später statt. Viele Bücher und Filme darüber waren noch lange verboten. Dass es sich in Algerien um einen »Krieg« und nicht - wie es offiziell immer hieß - um »Ereignisse« gehandelt hatte, wurde erst 1999 durch Präsident Jacques Chirac anerkannt. Auch sein Vorgänger, der sozialistische Präsident François Mitterrand, hatte sich nicht dazu durchringen können. Mitterrand war seinerzeit als Innen- und Justizminister für die Politik gegenüber dem Befreiungskampf in Algerien mitverantwortlich gewesen und hatte Gnadengesuche von zum Tode Verurteilen durchweg abgelehnt.
Differenzen in der Bewertung des Krieges kommen zu jedem Jahrestag wieder hoch und werden in den Medien heftig diskutiert. Als der 5. Juli zum Gedenktag für die Opfer des Algerienkriegs gemacht werden sollte, protestierten ehemalige Kriegsteilnehmer scharf, während sich die »Pieds noirs« und die »Harki« gegen einen Gedenktag am 19. März - dem ersten Tag des Waffenstillstands - stemmen. Um sie bemühte sich dieser Tage wieder einmal der um seine Wiederwahl kämpfende Präsident Nicolas Sarkozy. In einer Rede in Marseille bezeichnete er das Verhalten der französischen Regierung gegenüber französischen und algerischen Kriegsflüchtlingen als »beschämend« und entschuldigte sich dafür bei ihnen.
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