Lasst ihn herein, das arme Schwein!
Unverschämte Halbwelt beim »Berliner Leben« in der Neuköllner Oper
Selbstverständlich lieben sie ihr Berlin, die kleinen Gauner. Am Flughafen lauern sie ihren Opfern auf. Die Welt kommt geflogen nach Schönefeld - mit gutem Geld. Also nimmt man den Fremden an die Hand und nimmt ihn aus. Lasst ihn herein, das arme Schwein!
Eine alte Geschichte, 1866 auf die Stadt an der Seine zugeschnitten, unterhaltsam von Jacques Offenbach in Operettenklänge gebracht und in Vorahnung auf einen Skandal als »La vie parisienne« uraufgeführt. Große Empörung blieb aus, Begeisterung und Erfolg stellten sich ein.
Freizügig nach Offenbachs »Pariser Leben« zeigt jetzt die Neuköllner Oper das »Berliner Leben« von Hendrik Müller (Idee und Regie) und Kriss Rudolph (Text). Barbara Rucha sorgte für ungewöhnliche, mitunter von Percussion schrill und schräg geprägte Arrangements und zusätzliche Komposition. Ein freches Stück Musiktheater auf der Drehbühne ohne große Kulisse. Klare Aussage. Typen machen das Gesicht einer Stadt aus. Die Musiker Andreas Hirche (Keyboard, Glasharfe, Zither) und Olaf Taube (Schlagwerk) - unter Leitung von Hans-Peter Kirchberg am Klavier - haben sich mit ihren Kopfbedeckungen der Szene angepasst.
Omar (Janko Danailow) angelt sich auf dem Flugplatz ein betuchtes ukrainisches Paar, das in Berlin etwas erleben will. Er muss seine Beute sogar verteidigen. Alexej (Clemens Gnad) und Natascha (Sarah Papadopoulou) könnten auch von dubiosen Taxifahrern umworben werben, die mit Fremden von Schönefeld nach Treptow am Friedrichstadtpalast vorbei zu fahren pflegen. Omar verspricht dem Paar hingegen Unterkunft in einem Szenehotel. Seine heruntergekommene WG-Unterkunft muss dafür herhalten. Deren Bewohner träumen berauscht von besseren Zeiten. Barbesuch und Party auf der Admiralbrücke über dem Landwehrkanal mit herrlichem Stadtpanorama - »bis die Bullen kommen« - sind den Touristen versprochen.
Merkwürdig kommt dem Paar das alles durchaus vor. Aber dem Genuss von Drogen, der in der WG an der Tagesordnung ist, sind die beiden auch nicht abgeneigt, was Alexejs Vorrat an weißem Pülverchen verrät. Wie auch immer, es kommt noch schlimmer. Denn die Halbweltkumpel von Omar gehen gemeinsam ans Werk, den Geschäftsmann aus der Ukraine, der von sich sagt, er stamme eigentlich vom Kalmückenvolk ab, auszunehmen. Ihm setzt man den Floh ins Ohr, hier als Immobilienhai noch reicher zu werden.
Eine grandiose frivole Party wird in einer Neuköllner Wohnung als großes Gaunertheater vorbereitet. Und kaum ist man sich über den Plan einig, klingelt der Ahnungslose an der Tür. Man singt sich warm: »Lasst ihn herein, das arme Schwein!«.
Der Ort sei Symbol neuer Bescheidenheit, weiche aber bald dem Bau von Townhouses erklärt man dem sich über das merkwürdige Ambiente für den »Wirtschaftsgipfel« Wundernden. Ja, Kriss Rudolph, der hier sein Debüt als Librettist gibt, ist mit seinem Text auf der Höhe der verlogenen Zeit. Die Beteiligten können selbst kaum noch behalten, wen sie sich da in grenzenloser Unverschämtheit zu verkörpern vorgenommen haben, wenn sie vorgeben, halb Berlin verhökern zu wollen.
Die Putzfrau einer Bar mutiert zur Wirtschaftssenatorin, die meint, der Fernsehturm habe lange genug als für die Stadt überflüssiges Phallussymbol herumgestanden. Kann weg. Geld her. Ihr Mann redet als oberster Stadtentwickler wirres Zeug, was aber nicht weiter auffällt, weil man - um den besten Trinkspruch wetteifernd - sich mit Alkohol zukippt. Und operettengetreu kommt vor dem Happy End noch das Verwechslungsspiel Liebender zu seinem Recht.
Amüsant ist das über zweieinhalb Stunden dargestellt, wobei fast alle Sänger in mehreren Rollen gleich engagiert zu erleben sind. Herausragend Almut Kühne und Susanne Szell.
Wieder ab 22.3., 20 Uhr, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131, Neukölln, Tel.: (030) 68 89 07 77
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