Schätze aus dem Fluchtgepäck

Das Jüdische Museum zeichnet den Lebensweg jüdischer Migranten der 20er Jahre in Berlin nach

  • Sigrid Hoff, epd
  • Lesedauer: 3 Min.
Eingang der Bäckerei Kempler, Berlin 1926
Eingang der Bäckerei Kempler, Berlin 1926

Ein silberner Elefant auf Rädern, mit dem Salz, Pfeffer, Essig und Öl über eine große Festtafel geschoben werden konnte, ist ein Prunkstück, dem man den langen Weg nicht ansieht: Der reich verzierte Tafelaufsatz begleitete seine jüdischen Besitzer von Jekaterinoslaw nach Moskau, von dort 1923, im Fluchtgepäck versteckt, nach Berlin und schließlich nach Tel Aviv. Dort wird er heute von den Nachfahren wie ein Schatz gehütet.

Der Elefant ist das prächtigste Exponat aus dem Besitz der weit verzweigten Familie Kahan, mit der das Jüdische Museum Berlin den Lebensweg jüdischer Migranten der 20er Jahre in Berlin in seiner neuen Sonderausstellung erzählt. Unter dem Titel »Berlin Transit« und zusammen mit einem Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin will sie mit manchen romantisierenden Vorstellungen über das Leben der Ostjuden im »Scheunenviertel« am Alexanderplatz aufräumen. »Wir haben festgestellt, dass die Migranten selbst eine sehr heterogen zusammengesetzte Gruppe bildeten, die aus ganz Osteuropa stammte«, fasst die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anne-Christin Saß zusammen.

Besonders viele trieb es aus unterschiedlichen Landesteilen Russlands, aus dem Gebiet der Ukraine oder den Regionen des ehemaligen Habsburger Reichs nach Berlin. Was sie miteinander teilten, war die Erfahrung von Gewalt durch Krieg, Pogrome und Revolution. Die traumatischen Erlebnisse verdeutlichen gleich zu Beginn der Ausstellung Zeichnungen des aus Kiew stammenden Künstlers Issachar Beer Ryback. Sie halten detailreich, fast im Stil eines Marc Chagall, Gewaltexzesse und Leiden der Juden im Bild fest.

Ryback führte die Aquarelle im Fluchtgepäck nach Berlin mit, bereits in den 20er Jahren waren sie im Jüdischen Logenhaus in der Kleiststraße zu sehen. »Jetzt sind sie erstmals wieder in Berlin«, freut sich Kuratorin Leonore Maier über die Leihgabe aus Israel.

Der Status der Migranten zwischen Duldung und Ausweisung, ihre Aufenthaltsorte in Berlin, die Sprachenvielfalt und ihre unterschiedlichen Bemühungen, sich eine Existenz aufzubauen, sind Themen der Ausstellung. Eine große Karte zu Beginn führt exemplarisch Fluchtrouten und Schicksale vor Augen: 5300 Kilometer legte beispielsweise die Übersetzerin und Herausgeberin der Werke von Vladimir Nabokov, seine spätere Ehefrau Vera Slonim, zwischen 1919 und 1921 zurück. Von Petersburg reiste sie - mal mit dem Zug, dann auch mit dem Schiff - über Kiew, Odessa, Jalta, Sofia und Wien nach Berlin. Ähnlich abenteuerlich verliefen andere Fluchtwege.

Den klischeehaften Ansichten über das lange als romantisches »Schtetl« des Ostjudentums verklärte Scheunenviertel stellt die Ausstellung Zeugnisse antisemitischer Propaganda entgegen, die das Viertel als »jüdisches Verbrecherzentrum« diffamierte, sowie Fotos von vornehmlich gegen jüdische Migranten gerichteten Polizeirazzien. Genrebilder zeigen Männer in Kaftan mit Bart und Schläfenlocken als »typische« Ostjuden, der Arbeiterfotograf Ernst Thormann hingegen dokumentierte das Scheunenviertel als das, was es tatsächlich war: ein großstädtisches Armutsquartier.

Ein Charakteristikum der Migranten im Berlin der 20er Jahre war die Sprachenvielfalt, die sich im Alltag niederschlug. Russisch, Jiddisch, Hebräisch und Deutsch - die Ausstellung macht das babylonische Sprachengewirr mittels der Literatur, die hier entstand und in zahlreichen Kleinstverlagen gedruckt wurde, sowie über Audiostationen mit Texten in den Originalsprachen deutlich.

Doch es gab auch das Großbürgertum, das bereits vor der Oktoberrevolution aus Russland nach Berlin geflohen war und sich im vornehmen Bezirk Charlottenburg niedergelassen hatte, darunter viele Juden. Haushaltsgegenstände wie Tafelbesteck oder einen Samowar neben kleinen Gruß- und Visitenkarten der Familie des jüdischen Ölmagnaten Kahan, deren Nachfahren heute in den USA und in Israel leben, zeigen die Kluft zwischen den Lebenswelten im Scheunenviertel und in »Charlottengrad«.

Bis 15. Juli täglich von 10 bis 20 Uhr, montags von 10 bis 22 Uhr, Jüdisches Museum

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