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Gauck als Freiheitskämpfer und Europäer an der Weichsel

Die erste Auslandsreise des neuen Bundespräsidenten führte über die Oder-Neiße-Grenze

  • Holger Politt, Warschau
  • Lesedauer: 3 Min.
Joachim Gauck weilte an den beiden zurückliegenden Tagen in Polen. Es war sein erster Auslandsbesuch im neuen Amt. Ein Arbeitsbesuch bei Freunden, wie gerne unterstrichen wird.

In der Tat wurde auch von polnischer Seite die Normalität hervorgehoben, die in die deutsch-polnischen Beziehungen seit vielen Jahren eingezogen sei. Mehr noch: Die erste Auslandsreise des neuen Bundespräsidenten, die ihn nach Warschau führte, sei ein Symbol dafür, dass dieses Verhältnis »weit darüber hinaus geht, was eine normale Zusammenarbeit auszeichnet«, lobte Gaucks Gastgeber und Amtskollege Bronislaw Komorowski.

Seinem wichtigsten Thema nach war es fast ein Heimspiel für Joachim Gauck, denn er bewundere die Polen wegen ihres Freiheitswillens, für den sie in Europa so geschätzt seien. Früher hatte er bekannt, dieser unbedingte Freiheitswille habe ihm bisweilen sogar Angst gemacht. Diesmal aber beschränkte er sich auf die Bewunderung: Ohne den Mut und die Durchsetzungskraft der Polen hätte es der Freiheitskampf in der DDR sehr viel schwerer gehabt, sagte Gauck, der sich auch in Polen gerne als Bürgerrechtler und Widerständler feiern ließ. Kaum in den Sinn wird ihm dabei die große Tradition gekommen sein, auf die Deutsche sich beim Lob des polnischen Freiheitswillens berufen könnten. Karl Marx zum Beispiel, den Freunde und Familie als enthusiastischen Anhänger des polnischen Nationalaufstands von 1863 erlebt hatten.

Gauck vergaß nicht, an die »große Brutalität« zu erinnern, mit der Deutsche gegen Polen einst vorgegangen seien. Doch bei den Gesprächen sei man »so weit weg von den alten Lasten« gewesen, »die unsere Völker getrennt haben, und so dicht an den Werten, die uns verbinden«. Er lobte die europäische Einstellung seiner Gastgeber, die sich insbesondere in schwierigen Krisenzeiten als außerordentlich konstruktiv und hilfreich erweise. Ein willkommenes Lob auch für seinen Amtsbruder Bronislaw Komorowski. Der Bundespräsident verwies auf Polens Außenminister Radoslaw Sikorski, der sich im November vergangenen Jahres in Berlin deutlich für eine stärkere EU-Integration ausgesprochen und dabei insbesondere die Verantwortung der Bundesrepublik herausgestrichen hatte. Für Polen, so Sikorski damals, gebe es keine Alternative zum Prozess des weiteren Zusammenwachsens der EU-Länder.

Indem Gauck Sikorskis Auftritt noch einmal ausdrücklich hervorhob, gab er zu verstehen, dass auch er keine sinnvolle Alternative zum Integrationsprozess sieht. Solches wird in Polen gerne vernommen, es trifft den Nerv einer ausgesprochen EU-freundlichen Stimmung, die auch durch momentane energie- und klimapolitische Unsicherheiten im deutsch-polnischen Verhältnis kaum gestört wird. Selbst die nationalkonservative Oppositionspartei PiS um Jaroslaw Kaczynski käme kaum gegen diese Einstellung an. Eine der Ursachen liegt in der geschichtlichen Erfahrung der Polen, in dem Wissen, wie wertvoll ein tragfähiger Ausgleich mit dem Nachbarn Deutschland ist.

Dazu gehören in einer Zeit offener Grenzen auf absehbare Zeit paradoxerweise auch verlässliche Grenzen. Und so zählt es zu den geschichtlichen Wahrheiten, dass die nach 1945 gezogene Oder-Neiße-Grenze, an der Deutsche und Polen zunächst getrennt wurden, heute zu den tragenden Elementen der weit nach Osten ausgedehnten Europäischen Union zu zählen ist. Dass kaum noch ein Politiker in Deutschland wie in Polen auf die Bedeutung dieser Grenze verweisen muss, zeugt von ihrem großen Wert. Und von den jahrzehntelangen, natürlich widersprüchlichen Anstrengungen der Menschen, der Gesellschaften auf beiden Seiten von Oder und Neiße, ohne die es heute eine solche europäische Grenze nicht gäbe. Dass der jetzige Bundespräsident bei dem großen Wort Europa selten oder nie an die Oder-Neiße-Grenze denkt, ließe sich korrigieren.

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