Schlauch flicken und Kritik üben
Ehrung eines unkonventionellen Kreuzberger Angebotes zur Jugendhilfe
»Mussa, kannst du dir vorstellen, Wael die Bremsen zu erklären? Wael, er ist jetzt dein Chef.« Der Sozialpädagoge Titus Gramann steht zwischen zwei auf Schulterhöhe in Werkstattständern hängenden Fahrrädern und weist zwei Kinder ein. Um das eine Fahrrad kümmert er sich selbst, bei dem anderen sollen die beiden Nachwuchsschrauber ran.
Der 14-jährige Mussa wirkt dabei souverän. Seit über zwei Jahren kommt er in den »Werkstattladen Velo-fit« in der Zossener Straße 5 in Kreuzberg, zwischen Heilig-Kreuz-Kirche und Gneisenaustraße. »Velo-fit« wird von der Stadtmission betrieben und ist ein nicht alltägliches Hilfsprojekt für Kinder (ab zehn Jahren) und Jugendliche. Die können hier Freizeitgestaltung mit Ausbildungselementen verbinden. Von Montag bis Donnerstag können sie nachmittags Fahrräder bearbeiten und dabei zum einen technische Grundlagen lernen. Zum anderen aber - und das ist der Hauptgrund für die Eröffnung von »Velo-fit« gewesen - gehen sie einer auch für sie sinnvollen Freizeitbeschäftigung nach und üben sich im zwischenmenschlichen Verhalten.
Mussa, dessen blaue Werkstatthose nur an einem Träger an der Schulter hängt, bereitet nun mit Wael eine neue Isolierung für einen Bremszug vor. Wael ist elf Jahre alt und erst seit zwei Wochen bei »Velo-fit«. Aus Langeweile habe er sich dafür entschieden, sagt er. Sonst spiele er vor allem »Play Station«.
Die Aufsicht in dem mit Werkzeug, reparierten und noch zu reparierenden Fahrrädern gefüllten Arbeitsraum hat Titus Gramann. Seit fünf Jahren ist der Sozialpädagoge bei dem Projekt. Zur Zeit seien elf Kinder in zwei Gruppen regelmäßig bei »Velo-fit« aktiv, erklärt er. Sie kommen von Montag bis Mittwoch für je zwei Stunden. Donnerstags ist für unregistrierte Kinder und Jugendliche offen. Dienstags arbeiten zusätzlich fünf Kinder im Rahmen eines Schülerpraktikums mit. Gemacht werden sowohl Auftragsarbeiten an Fahrrädern, die Kundschaft hier abgegeben hat, als auch die klassische Wiederaufbereitung: Gespendete Fahrräder werden in einen vernünftigen Zustand gebracht, um verkauft zu werden.
In dem hohen Raum ist ein Zwischengeschoss eingezogen zu dem eine Treppe führt. Dort bilden Dutzende alte Fahrräder und Fahrradteile das Materiallager. »Wir machen fast alle Aufträge«, hält Gramann fest. »Sie müssen aber auch Sinn für die Jungen machen.« Weder sollen die überfordert werden, noch sollen kommerzielle Werkstätten eine echte Konkurrenz bekommen.
»Wegen des 3. Aprils haben wir in letzter Zeit weniger Reparaturen angenommen als sonst«, erklärt Gramann. Für den heutigen Dienstag muss in der kleinen Werkstatt Platz gemacht werden, weil ihr an diesem Tag der Preis des Wettbewerbs »Ideen für die Bildungsrepublik« verliehen wird, den Bundesregierung und Bundesverband der Deutschen Industrie zusammen durchgeführt haben. In dem deutschlandweiten Wettbewerb wurden 52 Projekte, »die sich in herausragender Weise für mehr Bildung von Kindern und Jugendlichen stark machen«, ausgezeichnet - nachdem sich über 1300 beworben hatten.
Im hinter der Werkstatt gelegenen Aufenthaltsraum laufen schon die Vorbereitungen für die Preisverleihung. Ein weiterer Sozialpädagoge klebt mit dem elfjährigen Jacques große Porträtfotos der elf Kinder und Jugendlichen von »Velo-fit« auf Pappe. Für eine kleine Ausstellung zur Preisverleihung haben die zur Selbstvorstellung zusätzlich Texte verfasst.
Auf die Frage nach seiner Motivation zur Mitarbeit sagt Jacques: »Ich lerne hier, Fahrräder zu reparieren und mit ihnen umzugehen. Aber auch so was wie Kritik üben.« Hinter ihm hängen handschriftliche Plakate an der Wand. Auf einem werden die verschiedenen Niveaus der Fertigkeiten aufgelistet, um die es hier geht. Ihnen entsprechend werden die Kinder bezahlt. Der Grundlohn liegt bei einem Euro pro Stunde. »Ich bin jetzt bei 1,20«, sagt Jacques. Dafür musste er beweisen, dass er einen Schlauch flicken und Kritik üben kann. Er geht aber davon aus, dass hier niemand nur wegen des Geldes anfängt.
Die Finanzierung von »Velo-fit« mag überraschen. »Das Projekt ist zu exotisch«, sagt Titus Gramann. »Die Werkstatt passt nicht zu den Regularien der klassischen Jugendarbeit.« Anträge auf Geld vom Jugendamt seien stets vergeblich gewesen. So müssen es die Stadtmission und Spenden richten. Die heutige Auszeichnung ist ebenfalls nicht mit Geld verbunden.
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