Warten auf die unbekannte Zahl
Das Baltikum hat in einem Jahrzehnt einen erheblichen Bevölkerungsverlust erlitten
Mit Laptop, Dienstausweis und blauweißem Schal ausgestattet, hatten sich zweitausend estnische Volkszähler im Februar auf den Weg gemacht, die Einwohnerstatistik der kleinen Ostseerepublik zu erfassen. Die Frauen und Männer im Alter von 18 bis 80 erledigten ihre Arbeit teilweise unter abenteuerlichen Umständen. So konnte man die winzige Insel Piirissaare nur über den zugefrorenen Peipussee erreichen. Einige der Fischer wurden gar direkt auf dem Eis beim Netzlegen befragt.
Dabei haben die Esten den Volkszählern die Arbeit so leicht wie möglich gemacht. Verliebt ins Internet, wie sie sind, haben sie sich natürlich am Webzensus beteiligt. Am Ende hatten mehr als 60 Prozent der 1,3 Millionen Einwohner ihre Fragebögen im Netz ausgefüllt. Weltrekord, sagen zumindest die Esten.
Jetzt erwartet man die Ergebnisse. Obwohl im Vergleich zur vorangegangenen Zählung wesentlich tiefer geschürft wurde (Wie viele Beerensträucher besitzen Sie?), steht im Mittelpunkt die Frage, wie hoch (oder niedrig) die Einwohnerzahl des Landes tatsächlich ist. Besorgnis haben die Daten der südlichen Nachbarn geschürt. Im katholischen Litauen hat sich die Bevölkerungszahl in zehn Jahren von knapp 3,5 Millionen auf drei Millionen verringert. Der Verlust entspricht fast der Einwohnerzahl der Hauptstadt Vilnius. Ebenso hat Lettland im vergangenen Jahrzehnt fast ein Siebtel seiner Einwohner eingebüßt. Es sind jetzt noch zwei Millionen, wobei ein relativ höherer Schwund bei der großen russischsprachigen Minderheit zu verzeichnen ist.
Ein Grund für den Rückgang ist die negative Geburtenrate. Doch weitaus stärker haben sich die sozialen Gegebenheiten ausgewirkt. Zwar haben sich die baltischen Staaten seit dem Zerfall der Sowjetunion um einiges weiterentwickelt, doch von Nord- oder Westeuropa sind sie noch ein ganzes Stück entfernt. Eine Zukunft im Ausland ist eine Option, die nicht nur die Verlierer der Wende, sondern auch gut Ausgebildete wegen der besseren Karrierechancen immer öfter ziehen. Der Weggang wurde besonders durch den Beitritt zur Europäischen Union 2004 beschleunigt. Eine zahlreiche litauische Gemeinde ist in Großbritannien und Irland zu finden, da die Inselstaaten ihre Arbeitsmärkte sofort nach der EU-Osterweiterung geöffnet haben.
Ähnliches ist auch für Estland zu erwarten. Eine Sonderrolle spielt hier indes der nördliche Nachbar Finnland, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Nähe. Allein die Zahl der im Großraum Helsinki arbeitenden Esten wird auf etwa 30 000 geschätzt. Estnische Ärztinnen oder Krankenschwestern sind in der finnischen Provinz keine Seltenheit.
Vorläufige Ergebnisse zeigen indes, dass der befürchtete demografische Schock in Estland wohl ausbleibt. Obwohl die Daten noch überprüft werden müssen, wird der Bevölkerungsverlust der letzten zehn Jahren geringer sein als in Lettland und Litauen. Genaues wird aber erst im Mai feststehen.
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