Es kräht einfach kein Hahn nach ihnen
Arbeitslose Musiker aus Osteuropa dürfen in Nürnberg nicht mehr als Ein-Euro-Jobber spielen
Nürnberg (dpa/ND). Kerzengerade steht Anatoliy Simkin vor dem Vorhang, konzentriert streicht er die Saiten seiner Geige. Mit der schwarzen Fliege und der würdevollen Ausstrahlung könnte der Musiker auf jeder Konzertbühne stehen - doch er spielt vor Kindergartenkindern. Wie viele zugewanderte Musiker ist Simkin arbeitslos. Als Ein-Euro-Jobber traten er und seine Ensemblekollegen im Rahmen eines Projektes in Altenheimen und Kitas auf. Doch nun ist Schluss: Wegen einer Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen fördert die Arbeitsagentur die Musiker nicht mehr.
»Musik ist mein Leben. Sie bedeutet alles für mich«, sagt Simkin. Seit seinem siebten Lebensjahr übt er, studierte in Kiew, spielte Jahrzehnte in einem ukrainischen Theaterorchester, übernahm dort am Ende den Dirigentenstab. Dann kam die Emigration - und der harte Absturz.
Zuhause »waren sie hoch angesehen, haben aber nichts verdient. Hier in Deutschland kräht kein Hahn nach ihnen, aber sie kommen durch die Versorgung über die Runden. Doch sie brauchen den Applaus«, schildert Thomas Hörner das Dilemma von Menschen wie Simkin. Hörner koordiniert das Projekt »Kultur überwindet Grenzen«, mit dem Nürnberger Jobcenter und die städtische Beschäftigungsgesellschaft NOA etwa 80 Musiker, Maler und Bildhauer vermitteln wollten.
Doch seit dem 1. April gilt das »Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt«. Durch die Neustrukturierung wird es künftig wesentlich weniger Ein-Euro-Jobs geben. Die Zahl in Bayern sank schon im vergangenen Jahr um 38 Prozent auf rund 6500.
Das trifft nun auch die NOA-Musiker. Denn Qualifizierung und sozialpädagogische Betreuung dürfen ebenso wie Bewerbungscoaching kein Bestandteil eines Ein-Euro-Jobs mehr sein. »Die sollen in erster Linie der Integration dienen«, erklärt Brigitte Hutzler von der Nürnberger Arbeitsagentur. Sie hat das Projekt 2006 angestoßen und seitdem betreut. Doch das Ziel, die Musiker in den Arbeitsmarkt zu vermitteln, sei nicht erreicht worden. »In Deutschland gibt es jedes Jahr 750 Absolventen der Musikhochschulen und 150 Stellen«, schildert Hörner das Problem. Da hätten »seine« Immigranten, oft schon älter, keine Chance.
Doch auch andere profitierten von dem Projekt: Die Senioren in den Heimen und die Kita-Kinder. Zudem gaben viele der Musiker auch Unterricht an Brennpunktschulen. 2000-mal waren die 45 Teilnehmer im vergangenen Jahr im Einsatz.
Mit dem Musizieren können und wollen viele von ihnen auf keinen Fall aufhören. »Wir haben ein großes Repertoire. Ich versuche Konzerte zu organisieren, in Kindergärten, Horten, Altersheimen«, sagt Anatoliy Simkin über die Zukunftspläne des Streicherensembles »Simkin und Freunde«. Auch andere wollen das Projekt ohne Förderung weiterführen.
Geplant ist, weiterhin in sozialen Einrichtungen aufzutreten - gegen eine kleine Aufwandsentschädigung. Der Unterstützung der bisherigen Förderer können die Musiker sich sicher sein: Hutzler etwa will sogar Urlaub nehmen, um »ihre« Musiker zu einem Vorspiel zu begleiten. Sie hat verstanden, wie viel ihnen Musik bedeutet. Als sie ganz am Anfang 70 arbeitslose Musiker einlud, kam nicht wie sonst üblich nur die Hälfte. Stattdessen standen 100 Leute vor der Tür.
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