»Objektiv« streiten?

Grass I

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

In einem Leserbrief, den diese Zeitung veröffentlichte, stand: »Niemand, der auch nur annähernd normale menschliche Regungen empfindet, wird an dem Gedicht von Günther Grass etwas israelfeindliches … finden.« Abgesehen von der streitbaren Schreibweise mehrerer Worte: Diese Aussage rückt Kritiker des Günter-Grass-Textes - um nur Günter Wallraff, Rolf Hochhuth, Fritz Stern, Durs Grünbein, Beate Klarsfeld zu nennen - ins Verdachtfeld des Abnormalen, ja des psychologisch Betreuungspflichtigen. Wegen nicht mal »annähernd normaler Regungen«. Meinung als Krankheit. Finsternis grüßt.

Vergessen wir Grass' unglücklich anmaßendes Gedicht, das der Historiker Fritz Stern eine traurige »Selbstverwundung« nennt. Bemerkenswert ist der Ton. Wie so vieler Debatten. Anwallung, Schimpfiade, Suada. Einerseits: Handfeste Beleidigung hat literarische Tradition - Villon, Heine, Biermann. Andererseits ist nichts so sehr wie die Polemik ein Prüfmesser von Intelligenz, nämlich: im gewählten Ausdruck für die eigene Empörung überlegter zu sein, als es in den Tiefen des Unterbewusstseins gängige Praxis ist.

Regelmäßig geht an Streitpartner die Mahnung, man möge trotz Kritik »objektiv« bleiben. Beobachtbar beim Thema Grass wie bei Diskussionen zum gehabten »Feudalsozialismus« (Friedrich Dieckmann). Besonders Linke rufen gern nach Objektivität, dann, wenn die eigene Geschichte zur Debatte steht. In Richtung Kapitalismus geht man lässiger mit der »Objektivität« um, obwohl er als bürgerliche Zivilisationsform weit mehr ist als nur Gier und Krieg.

Es gibt diese Objektivität nicht! Im Gegensatz zum Naturwissenschaftler, der seinen Gegenstand von außen betrachtet, ist der Geschichte erlebende wie nacherzählende Mensch ein bleibend Verstrickter in einer niemals nebelfreien Unübersichtlichkeit. Das bestimmt auch jede Interpretation, sie ist widersprüchlich bleibende Subjektivität. Aushaltbar!

Geschichtliche Bewegung ist Zusammenprall lebendiger Kräfte, hat also Verschiebungen und Prellungen der menschlichen Verfasstheit zur Folge. Man überlebt Geschichte nicht unbeschadet. Einer der möglichen Schäden, ob Volk oder Individuum: Opfer zu werden. Opferexistenz ist eine Abweichung vom gewünschten Leben. Also nicht nur mit jeder Herrschaft, sondern auch mit jedem Opfer einer politischen Lage (ob Volk oder Individuum) kommt eine Beschädigung der zivilen Balancen in die Welt. Ursache und Wirkung. Alte Wirkungen schaffen logischerweise neue Ursachen. Psychosen, die in Aggressivität umschlagen (ob bei einem Volk oder einem Individuum), die wählt man sich nicht selbst. Man muss dafür kein Verständnis aufbringen. Aber man kann. Und als normale menschliche Regung darf solches Verständnis für jemanden, der überall Feinde sieht, schon gelten.

Geschichte ist fortdauerndes Unmaß, das Streiten darüber auch. Ungehemmte Meinung der Freiheit, die oft schmerzt. Mal wegen der eigenen Dummheit, mal, weil die eigene Klugheit nicht durchkommt. Zu dieser Freiheit gehört, dass sie stattfinden darf. Ganz objektiv. Ihr Wert: im Dienste der Wahrheit jene Hoffnung zu erhöhen, keiner habe wirklich recht. Eine Hoffnung, die man als wünschenswerteste Regung bezeichnen darf. Normal ist sie im »Reizklima des Rechthabenmüssens« (Martin Walser) noch lange nicht.

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