Salomon, der Kämpfer

Von »Alleinreisenden« und der Isolation der Asylbewerber

  • Sara Mously
  • Lesedauer: 7 Min.
Viele Asylbewerber werden in Deutschland noch immer in verdreckten Lagern untergebracht, weit abgelegen von der Zivilisation, zu menschenunwürdigen Bedingungen. Salomon Wantchoucou organisiert in Sachsen-Anhalt den Widerstand - teilweise mit Erfolg.
Salomon Wantchoucou kämpft schon lange gegen die Zustände in Möhlau.
Salomon Wantchoucou kämpft schon lange gegen die Zustände in Möhlau.

Salomon Wantchoucou sitzt vor seinem vergilbten Computermonitor und tippt, wie so oft. Auf Tisch und Fensterbank stapeln sich Bücher: die Bibel, der Koran, ein Schülerduden mit dem Titel »Politik und Gesellschaft«. Die Internetverbindung ist schlecht. »Das liegt am Wind«, sagt er, »und an den hohen Bäumen überall.«

Doch der 38-jährige Mann aus Benin hat Geduld. Schließlich geht es nicht nur um seine eigene Freiheit, sondern auch um die seiner rund 200 Mitbewohner, den Asylbewerbern in der »Gemeinschaftsunterkunft« zwei Kilometer hinter dem Dorf Möhlau in Sachsen-Anhalt, mitten in der Einöde.

Sie leben in einem grauen Plattenbau, vier Stockwerke hoch. Die übrigen Gebäude auf dem Gelände stehen leer, ihre Türen sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschlagen. Ein hoher Zaun umgibt das Grundstück, drum herum nichts. Im Hof hat jemand ein altes Wandrelief frei gekratzt: Es zeigt Sowjetsoldaten, ihr Blick stahlhart und grimmig. Vor der Wende war das Lager eine Kaserne der russischen Armee. Damals gab es Bars, Geschäfte, ein Kino. Heute pfeift kalter Wind durch die undichten Fenster. Ins Dorf ist es eine halbe Stunde zu Fuß, von da aus fährt nicht einmal alle Stunde ein Bus zur nächsten Stadt Gräfenhainichen. So abgeschottet können die Bewohner weder Integrationskurse besuchen, noch gibt es in der Nähe eine psychosoziale Beratungsstelle für Opfer von Krieg und Verfolgung. Von den Möglichkeiten, einen Sportverein oder einen Flohmarkt zu besuchen, ganz zu schweigen.

Wantchoucou ist seit zehn Jahren in Deutschland. Er konnte in dieser Zeit weder arbeiten, noch sein Studium beenden oder eine Familie gründen. Bis heute ist er nur geduldet, weiß nie, wann er vielleicht abgeschoben wird. Vier Mal bewarb er sich schon um Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung, denn in Benin ist das Leben des politischen Aktivisten in Gefahr. Manchmal dauerte es ein Jahr, manchmal zwei, bis eine Antwort kam, und immer war es ein Ablehnungsschreiben. Er könne ein Wirtschaftsflüchtling aus einem anderen afrikanischen Land sein, unterstellte man ihm. Wieder und wieder schickten ihn die deutschen Beamten zu Sprachtests. »Wenn Sie Englisch können, können Sie ja kein Beniner sein«, bekam er zu hören. Schließlich gelang es ihm, als Beweis für seine Herkunft eine Kopie seiner Geburtsurkunde aus seiner Heimatstadt zu beschaffen. Vor zwei Jahren legte er sie der Ausländerbehörde vor. Eine Antwort hat er noch nicht erhalten.

In der Möhlauer Unterkunft wohnen fast nur Menschen, die wie er darauf warten, dass die Ausländerbehörde über ihr Bleiberecht entscheidet. Sie dürfen in keine eigene Wohnung ziehen und nicht arbeiten. Keiner hat ein Bankkonto. Die Asylbewerber von Möhlau werden gegängelt wie kleine Kinder und von der Gesellschaft abgeschottet als seien sie gefährliche Straftäter.

Ein Mann verlässt sein Zimmer nicht mehr. Zwei andere haben sich das Leben genommen. Alle anderen haben das Warten ertragen, irgendwie. Manche fünf, andere zehn oder 15 Jahre lang. Aber Wantchoucou kann nicht akzeptieren, dass Menschen im wohlhabenden Deutschland so hausen müssen: »Wenn die Leute nicht schon durch Krieg oder Folter traumatisiert sind, dann werden sie es spätestens hier. Jemanden 15 Jahre in ein Lager zu sperren, ist unmenschlich.« Als er 2008 aus einem anderen Heim nach Möhlau gebracht wurde, habe er sofort das Leid, die Depression in den Augen der Menschen gesehen, erzählt Wantchoucou rückblickend. »Ihre Blicke sprachen Bände.«

Wantchoucou hat eine kräftige Stimme. Er gestikuliert mit seinen großen Händen, bewegt sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während er spricht. Wenn ihm ein Wort auf Englisch nicht gleich einfällt, sagt er es in brüchigem Deutsch oder in seiner Muttersprache Französisch. Hauptsache, die Botschaft erreicht sein Gegenüber.

Als er im September 2001 nach Deutschland kam, steckte in seiner linken Schulter noch die Kugel, mit der man versucht hatte, ihn zu töten. Seit seinem 18. Lebensjahr war Wantchoucou in seinem Heimatland Benin politisch aktiv und prangerte die Korruption des Diktators Mathieu Kérékou an. »Für Prestigeprojekte gibt die Regierung ein Vermögen aus, aber auf dem Land verhungern die Menschen«, so Wantchoucous Vorwurf.

Der Schuss fiel im Frühjahr während einer Demonstration. Er ist sich sicher, dass der Geheimdienst der Regierung hinter dem Anschlag steckt. Kaum hatte er das nötige Geld zusammen, floh er. In Marokko versteckte er sich auf einem Frachter, harrte zwei Wochen lang neben dem Maschinenraum aus. In Deutschland kämpft Wantchoucou weiter - diesmal gegen die Unterbringung in Möhlau. Kaum im Lager angekommen, klopfte er an die Türen aller Nachbarn. »Wollt ihr das wirklich länger hinnehmen?«, fragte er sie. »Wollt ihr nicht gegen diese Zustände protestieren?«

Er schaffte es, dass erstmals Deutsche in das Heim kamen, um sich ein Bild zu machen. Gründete mit andern Bewohnern die »Flüchtlingsinitiative Möhlau«, die Nachrichten und Protestbriefe im Internet veröffentlicht und Demonstrationen organisiert.

Die Asylbewerber fordern, dass das Heim geschlossen wird, und dass sie in der Kreisstadt Wittenberg untergebracht werden. »Wir brauchen ein vernünftiges Umfeld für unsere Kinder«, sagt eine Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, »hier ist es einsam und dunkel, und wir fürchten uns vor den Wildschweinen.« - »Wir fordern unsere Freiheit, damit wir uns integrieren können«, sagt im Herbst 2010 die damals 14-jährige Kurdin Susan Ali. Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Schulnoten sind gut, aber deutsche Freunde hat sie keine.

»Der Fehler liegt im System«, sagt Bernd Mesovic vom Förderverein Pro Asyl. »In erster Linie zählt nicht, dass die Leute vernünftig untergebracht sind, sondern dass sich das Ganze aus Betreibersicht finanziell lohnt.« Denn das Asylbewerberheim gehört weder dem Bundesland Sachsen-Anhalt, noch dem zuständigen Landkreis Wittenberg, sondern einer privaten Betreibergesellschaft, der Zeitzer KVW Beherbergungsbetriebe GmbH. 7,18 Euro erhält das Unternehmen, das noch zwei weitere Heime betreibt, vom Landkreis pro Bewohner und Tag. Das ist im Bundesvergleich wenig. Es kann sich nur lohnen, wenn man die Ausgaben gering hält - etwa indem man statt zentral gelegener Wohnungen eine Baracke im Wald zur Verfügung stellt. »Wir versuchen Mängel so gut es geht jeden Tag abzubauen«, sagt Marcel Wiesemann, Geschäftsführer der KVW, »wie man das auch in einem ganz normalen Mietshaus macht.« Doch ein normales Mietshaus sieht anders aus: In Möhlau macht sich Schimmel in Fluren und Badezimmern breit, Kakerlaken krabbeln über den Fußboden. Kinder spielen auf dem Hof und in den leer stehenden Bauten zwischen Glasscherben und vor sich hin rottendem Müll. Wiesemann hat für diesen Zustand seine eigene Erklärung: »Den Bewohnern scheint es schwer zu fallen, es sich an diesem Ort schön zu machen.«

Ein Hoffnungsschimmer erglimmt Ende 2010 für die Lagerbewohner: Der Landkreis beschließt, eine Alternative zu suchen, und veröffentlicht eine Ausschreibung für neue Unterkünfte. Inzwischen steht fest: Das Möhlauer Heim soll saniert werden, und Familien mit Kindern sollen ausziehen dürfen. Die Wohnungen sollen zum Teil in Wittenberg liegen, zum Teil in Vockerode, einem Stadtteil der in diesem Jahr aus mehreren versprengten Gemeinden gegründeten Stadt Oranienbaum-Wörlitz.

Sollte dort Platz übrig sein, zum Beispiel, weil eine Familie lieber in Möhlau bleibt, als nach Vockerode zu ziehen, könnten auch »Alleinreisende« dort eine Wohnung bekommen - so werden im Bürokratendeutsch Asylbewerber genannt, die ihr Land wie Wantchoucou ohne ihre Familie verlassen haben. Die meisten »Alleinreisenden« werden jedoch im Lager hinter Möhlau wohnen bleiben. Vertraglich soll geregelt worden sein, dass Wiesemann das Heim saniert. Seinen Angaben zufolge soll der Schimmel entfernt werden, außerdem will er Bodenbeläge, Fenster und Duschen erneuern lassen.

Doch Wantchoucou wäre nicht Wantchoucou, wenn ihm eine neue Dusche das Leben in der Einöde schmackhaft machen könnte. »Sie können die Wände mit Gold verkleiden, das Lager ist trotzdem vom Rest der Welt abgeschnitten.« Deshalb will er weiterkämpfen. »Gegen die Isolation. Und für die Gleichbehandlung von Alleinreisenden und Familien.«

Eine schimmelnde ehemalige Kaserne als Kinderspielplatz
Eine schimmelnde ehemalige Kaserne als Kinderspielplatz
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