Kein Blick für die Sorgen im Land
Die Ablehnung der Sarkozy-Politik in breiten Bevölkerungskreisen könnte die Trumpfkarte für Herausforderer Hollande werden
Präsidentschaftswahlen werden nicht von einem der Kandidaten gewonnen, sondern von seinem unmittelbaren Gegner verloren. Diese Grunderkenntnis französischer Politologen dürfte bei der bevorstehenden Präsidentschaftswahl zutreffender denn je sein. Beim ersten Wahlgang am Sonntag sollen die rund 45 Millionen Wähler eine Vorauswahl unter zehn Kandidaten treffen. Der zweite Wahlgang am 6. Mai ist dann eine Stichwahl unter den beiden Bestplatzierten. Der Wahlkampf hat schon vor Monaten mit dem Sieg von François Hollande bei der Urabstimmung der Sozialisten begonnen. Vom Niveau der politischen Auseinandersetzung sind viele Franzosen jedoch enttäuscht. Jeweils über Tage dominierten sekundäre Themen, die einer der Kandidaten in die Debatte geworfen hat und auf die die anderen - einander überbietend - eingegangen sind. Dadurch nahm die öffentliche Diskussion einen Zickzackkurs und entfernte sich immer mehr von den eigentlichen Problemen des Landes und den Sorgen der Franzosen. Außenpolitische Themen, die Rolle Frankreich in Europa oder Umweltfragen wurden weitgehend ausgeklammert.
Besonders enttäuschend war für viele, dass die astronomische Staatsschuld und die unterschiedlichen Ansätze zu deren Abbau, die Mitte 2011 die Gemüter bewegt hatten, jetzt im Wahlkampf fast keine Rolle mehr spielten, ebenso wenig wie das chronische Defizit des Sozialversicherungssystems, die besorgniserregend hohe Arbeitslosigkeit und die Erosion der Kaufkraft der Haushalte. Selbst François Hollande, der bei seinen Vorschlägen für einen Wandel in Frankreich oft sehr vage blieb, sprach erst in den vergangenen Tagen die Notwendigkeit der Erhöhung des Mindestlohns an. Bis dahin hatte er als erster linker Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der 5. Republik keinerlei Anhebungen in Aussicht gestellt, sondern im Gegenteil die Notwendigkeit einer sparsamen Haushaltsführung verteidigt. Nicolas Sarkozy hat ihn oft sehr rüde attackiert und vor allem die Riesenschulden kritisiert, die die Umsetzung der Vorstellungen seines linken Herausforderers für das Land angeblich mit sich bringen würden.
Auf diese Weise vermied es Sarkozy, über die Bilanz seiner Amtszeit zu reden. Er weiß sich einer breiten Front von Franzosen gegenüber, die ihn auf keinen Fall für eine zweite Amtszeit im Elysée sehen wollen. Mit seinen Ankündigungen und Versprechungen hatte Sarkozy 2007 viele Erwartungen und Hoffnungen auf eine Belebung des verkrusteten politischen Lebens geweckt. Umso größer war die Ernüchterung, als er sich mit Steuergeschenken für die Wohlhabenden, der Privatisierung von Teilen des Öffentlichen Dienstes und anderen neoliberalen Maßnahmen vor allem als »Präsident der Reichen« profilierte. Von den angekündigten Maßnahmen zugunsten sozial benachteiligter Franzosen wurde dagegen fast nichts umgesetzt.
Natürlich war nicht alles schlecht an der Amtszeit von Präsident Sarkozy. Vor allem während der Banken- und Finanzkrise und beim Ringen um die Zukunft des Euro lief er zu großer Form auf. Einige der Reformen Sarkozys sind durchaus sinnvoll und Hollande hat schon angekündigt, dass er sie beibehalten wird. Doch unterm Strich wiegen für die meisten Franzosen die negativen Entwicklungen der zurückliegenden fünf Jahre deutlich schwerer als die positiven. Da dies zur Konsequenz haben dürfte, dass fast alle linken Wähler im zweiten Wahlgang für Hollande votieren, sind für Sarkozy die Chancen für eine Wiederwahl so gering wie noch bei keinem anderen Präsidenten der 5. Republik.
In der ersten Abstimmungsrunde werden jene Kritiker Sarkozys, die nicht für Hollande stimmen, wohl für die Rechtsextreme Marine Le Pen, den konsequenten Linken Jean-Luc Mélenchon oder den Zentrumspolitiker François Bayrou votieren. So könnten erstmals bei einer Präsidentschaftswahl fünf Kandidaten ein zweistelliges Stimmenergebnis erreichen. Letzten Umfragen zufolge rechnet man für Sarkozy und Hollande mit etwa 27 Prozent, für Le Pen mit 15,5 Prozent, für Mélenchon mit 14,5 Prozent und für Bayrou mit 10 Prozent. Weit abgefallen würde danach die Grünen-Kandidatin Eva Joly mit 2,5 Prozent folgen.
Doch auch von einer massiven Politikverdrossenheit zeugen die Umfragen, denen zufolge 30 Prozent der eingetragenen Wähler der Abstimmung fernbleiben könnten. Auch das wäre ein neuer, bedenklicher Rekord.
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