Roma zieht es nach Neukölln

Auf der Suche nach einem besseren Leben lassen sich die Zuwanderer im Bezirk nieder

  • Sebastian Kunigkeit, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch vor einem Jahr spielten in dem Hinterhof in Neukölln Kinder zwischen Ratten und Müllbergen. »Das hat mich schockiert«, sagt Benjamin Marx. Hunderte Roma hatte es auf der Suche nach einem besseren Leben in den heruntergekommenen Wohnkomplex an der Harzer Straße verschlagen. Heute sind die Häuser nicht mehr wiederzuerkennen. Die katholische Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft hat die Gebäude im Sommer 2011 gekauft, nun lässt Projektleiter Marx sie sanieren. »Es geht darum, die Stigmatisierung wegzukriegen«, sagt der Rheinländer.

Seit etwa drei Jahren beobachten die Behörden in dem sozial schwachen Bezirk Neukölln einen starken Zuzug von Rumänen und Bulgaren - viele von ihnen sind Roma. Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) sprach bereits von einer »Armutswanderung in der EU«.

»In ihren Herkunftsländern können sie nicht leben. Die Situation in Osteuropa ist gerade kritisch für Roma«, erzählt Georgel Caldararu von Amaro Foro, dem Landesverband der interkulturellen Jugendgruppe Amaro Drom. »Ihr Antrieb ist die Hoffnung, sich hier etwas aufzubauen«, sagt die Koordinatorin der Berliner Beratungsstelle des Vereins, Anna Schmitt. Doch viele landen in überfüllten Mietskasernen. Sie sehen sich Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt. Und ihre Ankunft birgt sozialen Zündstoff.

Die Hans-Fallada-Grundschule ist nur einen Steinwurf von den Häusern entfernt. Hier sind 90 von rund 400 Schülern rumänischer Herkunft. Fast 700 Kinder aus Rumänien und Bulgarien gehen inzwischen in Neukölln zur Schule. Viele sprechen nur wenig Deutsch, manche sind noch nie zuvor zur Schule gegangen. »Wir müssen gucken, wie die Schulen das überhaupt verkraften«, sagt der Neuköllner Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch.

Ferienkurse, Förderklassen und elf Sprachmittler sollen helfen. Doch der Bedarf wächst stetig. An den weiterführenden Schulen gibt es schon jetzt zu wenige Plätze. »Wir kommen einfach nicht hinterher«, sagt Bildungsstadträtin Franziska Giffey (SPD). Sie plädiert dafür, das Thema offen anzugehen: »Wir müssen akzeptieren, dass es sich um eine neue Zuzugswelle nach Deutschland handelt.«

Rumänien und Bulgarien sind 2007 der EU beigetreten. Noch bleibt der deutsche Arbeitsmarkt ihren Bürgern verschlossen. Aber die Osteuropäer dürfen selbstständig arbeiten. Deshalb häufen sich in einigen Häusern in Neukölln Gewerbeanmeldungen. Und Selbstständige können Sozialleistungen beantragen, wenn ihre Einkünfte nicht reichen. Die rechtspopulistische Partei »pro Deutschland« machte dagegen bereits Stimmung - eine Hetzkampagne, urteilt das Bezirksamt.

»Es hat mich zum Teil echt erstaunt, wie darüber diskutiert wird, wenn es um Roma geht«, kritisiert Anna Schmitt von Amaro Foro. Die Hürden, um Geld zu bekommen, seien sehr hoch. »Es ist nicht so, dass sie sagen: Hartz IV ist unsere Zukunft - ganz im Gegenteil. Die suchen und wollen Arbeit«, sagt Benjamin Marx über seine Mieter.

Auch mit anderen Vorurteilen sehen die Roma sich konfrontiert. »Das bedeutet, dass du keine Wohnung finden kannst, weil du Roma bist. Dass die Leute denken, du klaust«, erzählt Georgel Caldararu. »Es gibt Hausverwaltungen, die offensichtlich die Leute ausnutzen«, berichtet Anna Schmitt.

Wie viele Roma versuchen, hier in Deutschland neu anzufangen, kann niemand sagen. Die Zahl der gemeldeten Rumänen und Bulgaren stieg seit dem EU-Beitritt um 125 Prozent, in der Hauptstadt sind es aktuell knapp 20 000. Das Bezirksamt Neukölln vermutet, dass die tatsächliche Zahl höher liegt.

»Wir stellen jetzt die Weichen, ob das eine erfolgreiche Integration wird oder nicht«, sagt die SPD-Politikerin Giffey. Es sei entscheidend, den Kindern einen guten Start in der Schule zu ermöglichen. Aber: »Wir werden das als Kommune nicht lösen können.«

Im Innenhof an der Harzer Straße stehen heute die Müllcontainer in Reih und Glied. Die Mauern werden von Gerüsten verdeckt, Arbeiter bringen Dämmplatten an. Es gibt wöchentliche Deutschkurse, im künftigen Kellertheater türmen Arbeiter Ziegelsteine auf. Und wenn Benjamin Marx mittwochs den Fortschritt in Augenschein nimmt, grüßen die Mieter überschwänglich - viele von ihnen kommen aus demselben rumänischen Dorf. Marx' nächstes Ziel ist es, eine gewisse Mischung in die Häuser zu bringen: »Wir wollen kein Ghetto.«

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