Angekommen
»Russen Juden Deutsche« im Jüdischen Museum
Wir kennen die uniformierten Polizisten vor Synagogen und Talmudschulen, sehen dann und wann schwarz gekleidete alte Männer mit Kippa, Schläfenlocken und Bärten. Doch wie leben jüdische Familien heute in Deutschland, wovon träumen sie - und wie haben die vielen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion die jüdischen Gemeinschaften hierzulande geprägt? Eindrücke von dieser faszinierend Welt, von Identitätssuche und Neuerfindung vermitteln die sensiblen Fotografien von Michael Kerstgens, zu sehen in der Ausstellung »Russen Juden Deutsche« im Jüdischen Museum.
Die Frage nach der eigenen Identität - jüdischer Russe? deutscher Jude? - beschäftigt viele der Auswanderer aus den atheistischen Ostblockstaaten ihr Leben lang. Der Zustrom aus Russland veränderte die jüdischen Gemeinden in Deutschland nachhaltig: Nachdem die Bundesrepublik im Zuge der Vereinigung das Versprechen der letzten DDR-Regierung übernommen hatte, Juden aus Russland und der Ukraine als Kontingentflüchtlinge aufzunehmen, nahmen 250 000 russische Juden das Angebot an und siedelten nach Deutschland über.
Es begann ein langwieriger Annäherungsprozess zwischen den alteingesessenen Familien und den Neuankömmlingen, die sich mit Sprach-, Berufs- und Anpassungsproblemen herumschlugen und nebenbei noch eine religiöse Identität finden mussten. Doch vor allem brachten die Einwanderer frisches Blut in die jüdischen Gemeinden, deren Mitgliederzahl sich von 25 000 im Jahr 1990 auf aktuell 110 000 vervielfacht hat.
Michael Kerstgens, heute Professor an der Hochschule Darmstadt, ist einer der wenigen Fotografen, die diesen Prozess intensiv und über einen längeren Zeitraum dokumentiert haben - erst für den »stern«, dann für weitere Reportagen und ein aktuell erschienenes Buch. Seine grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotografien von Alltag, Feiern und Ritualen setzen 1992 ein, die neuesten sind letztes Jahr entstanden, als Kerstgens einige Protagonisten ein weiteres Mal porträtierte.
Einer davon ist Mikhail Troitschanski. Der unauffällige Mann mit Brille ist extra zur Eröffnung aus Kanada angereist, wo die Familie inzwischen wohnt. Es dauerte, bis er zum Glauben fand: In Moskau war für Religion kein Platz, in Berlin, wohin die Familie 1990 emigrierte, war er zuerst nur am Schuften. »Bei 14 Stunden Arbeit am Tag blieb keine Zeit, Jude zu sein«, erzählt er. Da weder sein Berufsabschluss als Diplom-Ingenieur noch der seiner Frau als Ärztin anerkannt wurden, verkaufte Troitschanski zuerst Autos und baute dann mit viel Geschick ein Import-Export-Unternehmen auf. Allmählich begann die Familie, sich mit ihrem Glauben zu beschäftigen - und mit der Frage, ob man in Deutschland bleiben will. 2003 siedelt das Paar mit den drei Kindern nach Toronto um: »Mir gefällt dort, dass man zuerst Kanadier ist und dann erst Asiate, Jude, was immer. Und es ist viel selbstverständlicher, Familie zu haben«, begründet der Unternehmer den Schritt.
Kerstgens' kontrastreiche Fotos zeigen die Familie vor 20 Jahren in der ersten Berliner Wohnung - alles recht einfach und improvisiert; Mikhail in Jogginghosen und Schlappen am Telefon, die zwei Söhne verschmitzt grinsend auf dem Sofa. Heute residiert das Paar in einer eleganten Wohnung in Richmond Hill, einem jüdisch geprägten Vorort Torontos; man sieht Ehefrau Galina beim Tischdecken für Sabbat, daneben Tochter Rebecca - eine Familie, die angekommen ist.
So wie auch Familie Levin aus Riga, die erst in Israel lebte und 1980 nach Berlin zog. Hier lernt Tochter Taya einen Ingenieur aus Odessa kennen und lieben; die Aufnahmen zeigen das stolze Hochzeitspaar 1992 vor weißer Kutsche und Taya 2011 in der Charlottenburger Zahnarztpraxis, die sie mit ihrer Mutter führt.
Vom Ankommen und Dableiben, von Abschied und Neubeginn, von der Suche nach Zugehörigkeit und religiöser Tradition erzählen auch die anderen Arbeiten Kerstgens'. Die einfühlsamen Bilder sind bei verschiedenen Anlässen entstanden: beim Chanukkaball der Jüdischen Gemeinde in Tiergarten, bei dem 1992 viele russische Neueinwanderer das erste Mal dabei waren, bei gemütlichen Sabbat-Nachmittagen im Familienkreis, einer fröhlichen Seniorenfreizeit in Bad Kissingen oder bei der Vorbereitung zur Beschneidung eines friedlich schlummernden Neugeborenen.
Die Schau ist eine wichtige, da aktuelle Ergänzung zur Hauptausstellung über das Leben osteuropäischer Juden im Berlin der 20er Jahre.
Bis 15.Juli, Jüdisches Museum
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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