Drang nach Westen ist ausgeblieben

Östliche EU-Bürger zeigen nur lauwarmes Interesse an Jobs in Deutschland

  • Thomas Mell
  • Lesedauer: 3 Min.
Als Deutschland vor einem Jahr seinen Arbeitsmarkt für acht EU-Neumitglieder öffnete, warnten hiesige Zweifler vor einer »Invasion der Billigjobber« - doch der große Ansturm ist ausgeblieben.

Es war die Liebe, die Vaike nach Deutschland verschlagen hatte. Doch die junge Estin wusste, dass es trotz Magisterabschlusses und Arbeitserfahrung schwer wird, in der neuen Heimat einen Job zu bekommen. Sie war der Landessprache nicht mächtig.

Dass die mangelnden Deutschkenntnisse ein Hindernis für Arbeitssuchende aus dem nördlichsten Land des Baltikums sind, sagt auch Jan Haines von der Personaldienstleistungsfirma HR factory. »Das näher gelegene und sprachlich verwandte Finnland ist bedeutend attraktiver für Esten«, erklärt Haines. »Andere skandinavische Märkte ermöglichen eine Kommunikation in Englisch, dies ist in Deutschland nicht überall gegeben - insbesondere im Niedriglohnsegment.«

Estland ist eines der acht EU-Länder, deren Bürger seit dem Mai 2011 ohne Einschränkungen in Deutschland arbeiten dürfen. Die Bundesregierung hatte nach der EU-Osterweiterung 2004 eine Übergangsfrist maximal ausgenutzt und neben Esten auch Letten, Litauern, Polen, Slowaken, Slowenen, Tschechen und Ungarn sieben Jahre lang den freien Zugang auf seinen Arbeitsmarkt verweigert. Diese letzte Schranke ist jetzt gefallen. Jedoch zeigt die nüchterne Statistik, dass die Zuwanderung aus dem Osten seitdem zwar angestiegen ist, doch die befürchtete Flut von Jobmigranten eher Unkenrufen zugeordnet werden kann.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat vor Inkrafttreten der vollen Freizügigkeit errechnet, dass jährlich bis zu 140 000 Arbeitnehmer aus den acht EU-Neumitgliedern nach Deutschland kommen könnten. »Die bis jetzt vorliegenden Zahlen lassen vermuten, dass es in den ersten zwölf Monaten weniger als 100 000 sein werden«, bestätigt Ilona Mirtschin, Pressereferentin der Bundesagentur für Arbeit. Ihr zufolge ist die Gesamtzahl der Arbeitskräfte aus der östlichen EU um ein Drittel gestiegen - von 161 000 im September 2010 auf 226 000 ein Jahr darauf. Dies ist nicht bloß mit Zuwanderung zu erklären, da viele der statistisch erfassten Neuankömmlinge wohl schon vorher in Deutschland lebten, so Mirtschin.

Die Ursache für das begrenzte Interesse an deutschen Jobs ist neben der Sprachhürde - wie im Falle Estlands -, auch das lange Zögern der Bundesregierung. Großbritannien, Irland und Schweden verzichteten vor sieben Jahren gänzlich auf eine Übergangsfrist. Besonders die beiden Inselstaaten entpuppten sich als begehrtes Zielland für abwanderungswillige Osteuropäer. Die Öffnung des hiesigen Arbeitsmarktes hat der IAB zufolge nicht zu einer »spürbaren Umlenkung« der Arbeitsmigranten von Großbritannien und Irland nach Deutschland geführt.

Ein weiterer Grund für die ausgebliebene Migrationswelle gen Westen ist auch der Eigenbedarf an qualifizierten Fachkräften, die von den wieder erstarkten östlichen EU-Wirtschaften gebraucht werden. »In Estland ist der Markt für Qualifizierte so gut wie leer gefegt«, bemerkt Jan Haines. Auch seien die deutschen Gehälter oft wenig verlockend. »Deutsche Arbeitgeber stellen viel zu häufig die Vermutung an, dass man Mitarbeiter aus einem Billiglohnland anwirbt«, sagt der Geschäftsführer der Personaldienstleistungsfirma. »Die mag den Durchschnittsverdienst betreffend stimmig sein, ist jedoch insbesondere für die IT-Branche nicht zutreffend.«

Derzeit versuchen die bevölkerungsarmen baltischen Staaten, durch Rückkehrkampagnen der Abwanderung junger Menschen entgegenzuwirken. In Estland hat der Aufruf »Talendid koju« (Talente, kehrt nach Hause) bisher nur spärlichen Erfolg gehabt.

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