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Das Mahnmal der Anderen

Nach 20 Jahren Streit soll das Sinti-und-Roma-Denkmal am Berliner Reichstag endlich eingeweiht werden - im Oktober

  • Martin Weiser und Thomas Mell
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma soll dieses Jahr am Reichstagsgebäude endlich eröffnet werden, aber es ist immer noch weitgehend unbekannt - auch bei den Berlinern.
Vier Jahre nach Baubeginn ist vom Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma wenig zu erkennen.
Vier Jahre nach Baubeginn ist vom Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma wenig zu erkennen.

»Keine Ahnung«, gestand der weißhaarige Rentner mit starkem Berliner Dialekt auf die Frage, was hinter dem Bauzaun im politischen Herzen seiner Heimatstadt entsteht. Und tatsächlich ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, was auf dem Gelände, eine Straßenbreite vom Reichstag, vor sich geht. Wenn man sich trotz der Verbotsschilder traut, durch die Lücke zwischen zwei Metallgittern zu schlüpfen, findet man einen Ort von der Größe eines Spielplatzes. Von Bäumen und Büschen umgeben, liegt da ein kreisrundes Wasserbecken mit schwarzem Grund, in dem sich die deutsche Fahne vom Reichstag spiegelt. Der milde Frühlingswind erzeugt winzige Wellen, am Beckenrand treibt eine gelbe Rosenknospe und die Spatzen trinken aus dem Wasser.

Wenn man das Laub zur Seite schiebt, erkennt man rund um das Becken einen Text aus gegossenem Eisen. »Kalte Lippen«, »Ohne Atem«, »Stille« steht da auf Deutsch und Englisch. Was bedeutet das, fragt man sich und schaut auf die herumliegenden Granitplatten, Kabelstücke und Betontrommeln. Zwei seltsame Holzwände versperren die Sicht der Vorbeilaufenden auf das Baugelände. Erst wenn man über eine Platte mit der Inschrift »Belzec« stolpert, kommt einem der Begriff Holocaust in den Sinn. Eine weiße Tafel, die von außerhalb des Geländes überhaupt nicht sichtbar ist, liefert letztendlich die Antwort: Hier wird das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma errichtet.

Ein Zitat von Roman Herzog

Nach langwieriger Planung und Streitigkeiten wird zumindest seit 2008 zögerlich gebaut. 20 Jahre sind vergangen, seit der Bund und das Land Berlin dem Projekt grünes Licht gaben. »Der Zentralrat hat die erste öffentliche und politische Initiative für ein nationales Holocaust-Denkmal Anfang der 1990er Jahre ergriffen. Dabei sollte es zunächst um ein gemeinsames Denkmal gehen«, erklärt Arnold Roßberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Doch es kam anders. Mit dem Zentralrat der Juden wurde bald vereinbart, separate Denkmäler zu bauen. »Vor allem aus Rücksichtnahme auf religiöse Erfordernisse«, meint Roßberg.

Zudem habe es in der Folgezeit politische Widerstände gegen den Bau eines Sinti-und-Roma-Denkmals zwischen Brandenburger Tor und Reichstag gegeben. »Von verantwortlichen Politikern wurde nur ein Gedenkstein in Marzahn vorgeschlagen«, verweist Roßberg auf den Ort, an dem zwei Wochen vor der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 Hunderte Roma in ein Zwangslager eingewiesen wurden. Letztendlich wurde das Grundstück südlich des Reichstages von dessen Eigentümer, dem Land Berlin, für das Denkmal bereitgestellt, sagt ein Vertreter von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU).

Die künstlerische Gestaltung war zunächst unumstritten. Den Zuschlag bekam der israelische Gestalter Dani Karavan. Andere Künstler hatten die Anfrage des Zentralrats der Sinti und Roma abgesagt. Karavans Entwurf »See der Erinnerung« stellt endlos tiefes Wasser dar. Die dreieckige Säule in der Beckenmitte deutet auf die Kennzeichen der Roma in Konzentrationslagern hin und soll eine Rose tragen. Die verwelkte Blume wird den Plänen nach im Brunnen versinken und durch eine neue ersetzt werden. Die um das Becken verlegten Granitsteine werden die Namen der Lager tragen, in denen Sinti und Roma inhaftiert waren und zum größten Teil starben. Das Gedicht »Auschwitz« am Brunnenrand hat der italienische Rom Santino Spinelli geschrieben.

Erhebliche Unstimmigkeiten gab es jedoch wegen einer zunächst vorgesehenen Widmung. So stritten sich die Bundesregierung und die verschiedenen Interessenverbände - auch miteinander - darum, wie die Opfergruppen zu bezeichnen sind. Am Ende verzichtete man auf den Text und arbeitete stattdessen eine historische Chronologie des Völkermordes aus. Auf den Informationstafeln wird der zunächst vom Bund vorgeschlagene Begriff »Zigeuner« nur als Nazi-Zitat verwendet, hervorgehoben werden beispielsweise die Ethnien der Sinti, Roma, Lalleri, Lora und Manusch. Gesondert wird aber auch auf die »eigenständige Opfergruppe« der Jenischen und andere Fahrende hingewiesen.

Zugleich bezieht die Chronologie mit einem Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog Stellung zu der diskussionswürdigen Frage, wie der Völkermord an den Roma im Verhältnis zum Massenmord an den Juden zu verstehen ist. »Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden«, hatte Herzog 1997 gesagt.

Porajmos - der vergessene Völkermord

An die ermordeten Juden Europas wird in Berlin mit einem imposanten Denkmal am Brandenburger Tor erinnert. Es gehört heute zu den bekanntesten und meistbesuchten Orten der deutschen Hauptstadt. Der Völkermord an den Juden ist eines der Themen, über die auch die breite Bevölkerung viel zu wissen scheint. Nicht so der Roma-Holocaust, obwohl er Hunderttausende Opfer forderte. »Zum größten Teil behandelt man im Unterricht natürlich die Juden, ganz klar«, gibt eine 18-jährige Schülerin aus Flensburg zu, die am zukünftigen Roma-Denkmal vorbeigeht. Vielleicht wird es ähnlich wie das 200 Meter entfernte Holocaust-Mahnmal dazu beitragen, dass der Völkermord an den Roma zum Bestandteil der europäischen Erinnerung wird. Schließlich sind bei einem der größten Massenmorde des vorigen Jahrhunderts schätzungsweise 250 000 bis 500 000 Roma und Sinti ums Leben gekommen.

Die Roma haben ein eigenes Wort für »ihren« Holocaust. »Porajmos«, das Verschlingen. Die Roma-Minderheit wurde zwar schon vor Hitlers Machtübernahme diskriminiert, aber die Nationalsozialisten haben die Unterdrückung auf eine neue Ebene gestellt - die Rassenebene. So wurde die Mehrheit der ungefähr 26 000 deutschen »Zigeuner« erst durch die Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle »wissenschaftlich untersucht«, indem man Kopfgrößen und Nasentiefen maß oder Augenfarben verglich. Danach wurden sie entweder als »Reinrassige« oder »Mischlinge« eingestuft. Nach der Nazitheorie waren ungefähr fünf bis zehn Prozent der Zigeuner »reinrassig« und damit Arier, die große Mehrheit aber minderwertig, weil das »arische Element« in ihrem Blut zu stark verdünnt gewesen sei. Sie mussten sich den Nürnberger Gesetzen von 1935 und anderen Arten von Diskriminierung unterwerfen, viele wurden sterilisiert und später in Vernichtungslagern im Osten in den Tod geschickt.

Erinnerungskultur in anderen Ländern

Ähnliches Schicksal traf die Roma auch anderswo. Im »Protektorat Böhmen und Mähren« starben ungefähr 90 Prozent der 6500 Roma. Die meisten wurden in Auschwitz vergast, über 500 kamen ums Leben in zwei von tschechischen Polizisten bewachten Arbeitslagern in Lety u Písku und Hodonín u Kunštátu. An beiden Orten gibt es heute Erinnerungsstätten, die aber nicht unumstritten sind. In Lety steht auf dem Gelände des ehemaligen Lagers eine große Schweinefarm, in Hodonín wird das damalige Lager als Erholungsgebiet benutzt, wo man an einer der Holzbaracken aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs eine Satellitenschüssel und Marlboro-Werbung sehen kann.

Weniger kontrovers ist die Erinnerung in Estland, wo es eine relativ kleine Roma-Gemeinde gibt. Sie bekam 2007 ihr eigenes Mahnmal. Es befindet sich jedoch nicht in der Hauptstadt, nicht am Parlamentsgebäude, sondern am Tötungsort. Der ungeschliffene Granitstein mit dem symbolischen Rad und einer Inschrift ausschließlich in der Romanisprache steht in Kalevi-Liiva, in einem Kiefernwald unweit der Ostseeküste. »Ich bin ein alter Mann, werde bald sterben, aber die Jugend hat jetzt einen Erinnerungsort«, sagte der ehemalige KZ-Häftling Harri Fenge bei der Einweihung.

Das Denkmal in Berlin sollte ursprünglich 2009 eröffnet werden. Arnold Roßberg vom Zentralrat der Sinti und Roma weist auf künstlerische Differenzen und »Herstellungsmängel« hin. Auch sind inzwischen die aus Bundesmitteln vorgesehenen 2,3 Millionen Euro nahezu verausgabt. Derzeit wird über einen Nachtrag beraten. Man hofft aber: Das Mahnmal soll am 25. Oktober endlich eingeweiht werden.

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