Mehr als nur »handwerkliche Defizite«
Thüringer Schäfer-Kommission legte Bericht über Suche nach NSU-Terroristen vor
Ende November bekam Ex-Bundesrichter Gerhard Schäfer einen Anruf vom Thüringer Innenstaatssekretär Bernhard Rieder. Ihm, seinem Minister Jörg Geipel (CDU) und der gesamten Thüringer Landesregierung stand das Wasser bis zum Halse, weil der Freistaat offenbar über Jahrzehnte sehr »unbedarft« mit militanten Neonazis umgegangen ist.
So konnte aus dem Thüringer Heimatschutz heraus ein Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) und daraus die »Zwickauer Zelle« wachsen. Die Mitglieder dieser terroristischen Vereinigung - Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos (beide starben nach einem Banküberfall am 4. November in Eisenach) und Beate Zschäpe (in U-Haft) - brachten vermutlich zehn Menschen um, neun davon aus offenkundig rassistischen Motiven.
Der 74-jährige Schäfer nahm den Auftrag an, nachdem seine Bedingungen akzeptiert worden waren: freie Wahl der Kommissionsmitglieder und deren Mitarbeiter sowie uneingeschränktes Auskunftsrecht für die Beamten, die er befragen wollte.
Schäfer holte sich mit dem ehemaligen Bundesanwalt Volkhard Wache und Ministerialdirigent Gerhard Meiborg zwei Vertraute an seine Seite. Dazu vier wissenschaftliche Mitarbeiter. Sie durchforsteten 50 Aktenordner, befragten über 40 Zeugen. Darunter waren der Chef des Landeskriminalamtes (LKA), Werner Jakstat, Verfassungsschutzchef Thomas Sippel und dessen »exaltierter« Vorgänger Helmut Roewer. Auch der frühere Neonazi-Führer und V-Mann Tino Brandt samt V-Mann-Führer mussten antreten.
Der Bericht bezeugt akribische Arbeit. Und doch ist er gewiss lückenhaft. Die meisten Akten aus den 90er-Jahren sind längst geschreddert. Legal, dank Datenschutz und Verjährungsfristen. Zum anderen verschwindet - wie man in den letzten Monaten mehrfach erfuhr - so einiges aus Erfurter Amtsstuben. Und wer mag bestimmen, wie vollständig die Erinnerung von Zeugen ist, die einem Geheimdienst angehören und/oder sich durch wahrheitsgemäße Aussagen selbst belasten.
So ist die Wertung von Innenminister Geipel zwar richtig, doch eben auch unscharf. »Der Bericht zeigt gravierende Fehler bei Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaft auf.« Geipel redete von mangelnder Abstimmung, Informationsweitergabe und Auswertung von Erkenntnissen, monierte »handwerkliche und strukturellen Defizite«, meinte, Polizei, Verfassungsschutz und Justiz hätten nicht so professionell gearbeitet, wie notwendig sei. Mit einigem Aufatmen wird die Regierung zur Kenntnis genommen haben, dass Schäfer keine Anhaltspunkte dafür entdeckt hat, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe staatlich gedeckt worden sind oder gar als V-Leute gearbeitet haben.
Doch das regierungsoffizielle Aufatmen gerät zur Hechelei, wenn man sich anschaut, wie sorglos der Thüringer Verfassungsschutz mit zahlreichen Hinweisen und Meldungen umgegangen ist, die die Gefährlichkeit des Terrortrios und anderer Neonazis zweifelsfrei belegten. Mehr noch, man vermied es nicht nur, die fahndenden LKA-Beamten zu informieren, man warnte die Rechtsextremisten sogar vor polizeilichen Aktionen. So wurden die Polizisten dann mit dem höhnischen Spruch »Bei mir findet ihr nichts!« zur Haussuchung begrüßt. Ein V-Mann bestätigte der Kommission, dass er »vier bis fünf Mal« gewarnt worden ist. Auch lässt sich ein Besuch des Verfassungsschutzes bei Familie Mundlos belegen, bei dem die Geheimdienstler geradezu gegen die Interessen des Thüringer LKA gehandelt haben. Der Geheimdienst informierte das LKA auch nicht über Verhandlungen zur Rückkehr von Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe aus dem Untergrund.
Im Gegenzug unterließ es die Polizei, den Verfassungsschutz etwa über eine Abhöraktion gegen einen sächsischen Neonazi zu informieren. Dieser, das wusste wiederum der Geheimdienst, wollte Waffen für das Terrortrio beschaffen. Nicht nachvollziehbar sind auch die nur sporadischen Observationen von NSU-Kontaktleuten, höchst fragwürdig erscheinen die abgebrochenen Telekommunikationsüberwachungen.
Innenminister Geipel beteuerte: »Ich werde Schlussfolgerungen daraus ziehen.« Das ist ein Anfang. In der kommenden Woche müssen die Thüringer Sicherheitsverantwortlichen vor dem Erfurter NSU-Untersuchungsausschuss erscheinen. Kommentar Seite 4
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