»Ist dieser Mann ein Humanist?«
Peter Turrini: Laudatio für Claus Peymannn, Träger des Lessing-Preises 2012
Jetzt bekommt der Claus Peymann den Lessing-Preis, und soweit meine Kenntnisse über Meister Lessing reichen, war er ein großer Humanist. Nämliches kann man von Claus Peymann nicht behaupten.
Es gibt die irrige Meinung - ich habe ihr auch gefrönt, als ich ein junger Schriftsteller war - dass die Herstellung von Kunst jenen Ansprüchen gerecht werden sollte, die das fertige Kunstwerk der Welt abzufordern hat: mehr Einsicht, mehr Gerechtigkeit, mehr Humanität. Wer jemals mit Peymann die gemeinsame Theaterkunst übte, und ich hatte die Ehre, diese Übung über zehn Jahre mit ihm zu betreiben, weiß, dass die Proben mit ihm alles andere als ein Übungsfeld der Humanität waren.
Mein Beobachtungszeitraum bezieht sich auf seine Zeit in Österreich, bekanntlich ist er ja dort im Jahre 1999 gegangen worden, obwohl er immer wieder behauptet, er sei freiwillig gegangen. In Wahrheit hat ein österreichischer Bundeskanzler, der heute Autoverkäufer in Argentinien ist und von Kunst ungefähr so viel versteht wie ich von Kardanwellen, hat also dieser vormalige Kanzler und jetzige Automobilkeiler auf die nächstbeste Gelegenheit gewartet, Peymann loszuwerden.
Das war für uns alle, die mit ihm zu tun hatten, ein Schrecken: Nach etlichen Jahren in Österreich war Peymann so weit verändert worden, vom hundertprozentigen Deutschen zum halben Österreicher mutiert, dass wir alle begannen, ihn zu ertragen und sogar gern zu haben.
Als wir eine Woche nach seinem Abgang von Wien nach Berlin miteinander telefonierten, sagte er mir, dass ihm auffalle, wie laut die Deutschen reden, dass ihre Sätze mehr den Ton eines Kommandos, als den einer Mitteilung haben. Ich verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass wir alle, als er 1986 in Wien angekommen war, den nämlichen Eindruck von ihm hatten. Er war uns also nähergekommen, ja geradezu ans Herz gewachsen, aber so ein Satz sagt sich so leicht, weil ich ja von den vielen Stolpersteinen auf diesem Weg der Annäherung noch nicht geredet habe.
Ich habe Ihnen am Anfang meiner Rede gesagt, dass der Peymann im Unterschied zum Namensgeber dieses edlen Preises kein Humanist ist. Wenn er ein Stück von mir probte - in seiner Ära wurden sechs Stücke von mir zur Uraufführung gebracht -, ging es alles andere als human zu. Ich war immer furchtbar aufgeregt, was er mit meinem jeweils neuen Stück auf den Proben anstellen würde, ich versuchte ihn mit Fragen zu seiner Inszenierung zu löchern, aber er blieb, was ansonsten ganz und gar nicht seinem Wesen entsprach, stumm. Er verbannte mich von den Proben, und ich lief vor dem Burgtheater auf und ab, wie ein werdender Vater vor dem Kreißsaal. Ich schlich mich in Tarnkleidung auf die Proben, begab mich sozusagen als Harun el-Raschid unter meine eigenen Wörter, aber als er dies merkte, ließ er die schwingenden Theatertüren von seinen Assistenten mit Seilen festzurren.
Ich presste mein Ohr an einen Spalt dieser strickverschlossenen Türen, um etwas von dem zu erhaschen, was er den Schauspielern als Erklärung zu meinen Figuren zu sagen hätte, aber ich hörte nur jenes berühmt-berüchtigte Peymannsche Schreien, welches ihm später, nach seinem Weggang von Österreich, bei den Deutschen so unangenehm auffiel.
Das soll Art und Wesen eines Humanisten sein? Kurz vor der Premiere, also zu einem Zeitpunkt, als es kaum noch möglich war, etwas zu beeinspruchen oder gar zu ändern, lud er mich vor, und ich sah mir einen sogenannten »Durchlaufer« an. Da ich mir in meiner Weinviertler Schreibwerkstatt an der tschechischen Grenze alles ganz anders vorgestellt hatte, reagierte ich auf seine ostentative Frage, wie ich seine Inszenierung finden würde, enttäuscht.
Er schrie - und wie wir inzwischen wissen, war das seine bevorzugte Form des Gesprächs - dass er sich hier wochenlang den Arsch aufgerissen habe, um eine tolle Inszenierung hinzulegen, und ich käme daher und murmle begeisterungslos vor mich hin. Er wandte sich abrupt von mir ab und eilte zur Bühne. Ich ging ihm nach und wollte mich auf eine österreichisch-schleimige Art für meine mangelnde Begeisterung entschuldigen, er drehte sich um, schrie mit jener Vehemenz, die wir nun schon wirklich zur Genüge kennen, dass er doch wissen würde, wie man Turrini inszeniert. Und er hatte Recht: Er hat meine Stücke großartig inszeniert. Das erkannte ich zunehmend, damals bin ich allerdings schwer gekränkt von dannen gezogen und habe mich in einem Retzer Weinkeller betrunken.
Sie sehen also, verehrte Zuhörende, das Theater schenkt der Welt in seinen besten Sätzen und in seinen hervorragendsten Aufführungen ein Stück Humanität - die Herstellung von Theater hat nichts von all dem an sich. Damit ein Mensch wie Claus Peymann diese Humanität in die Welt stemmen kann, muss er ein Berserker sein, und mir fällt an dieser Stelle meiner Rede gleich noch ein Beispiel für dieses Berserkertum ein: Er rief mich am Heiligen Abend an, ob ich nicht bereit wäre, zu ihm in sein Haus zu kommen, um mit ihm über eine Szene in meinem neuesten Stück zu debattieren. Ich wies ihn fassungslos darauf hin, dass heute Heiliger Abend sei, dass ich bei der Familie sei, da fragte er mich allen Ernstes, ob jetzt auch ich mit diesem Familien- und Weihnachtskitsch beginnen würde. Das sei ihm schon beim Handke auf die Nerven gegangen. Wie wir wissen, sind zu Weihnachten ja alle von humanistischer Rührung beseelt, nur nicht Claus Peymann.
Seine Humanität ist offensichtlich von anderer Art.
Es gibt ja eine erstaunliche Entwicklung am Theater: Diejenigen, die versichern, dass sie alles im Geiste der Autoren inszenieren würden, zerstören zunehmend deren Texte. Diejenigen, die in der Politik behaupten, der Mensch und die Humanität stünden im Mittelpunkt, sind die eifrigsten Zerstörer dieser Humanität. Als in Österreich vier Roma mit einer Sprengfalle getötet wurden, verkündete der damalige österreichische Vizekanzler, es müsse sich um einen Unfall handeln, denn die Österreicher seien Humanisten und zu solch einer inhumanen Tat nicht fähig. Peymann war damals der Erste, der öffentlich und lauthals - und zu solchen Gelegenheiten preise ich seine Lauthalsigkeit - behauptete, was sich später als Tatsache herausstellte: Hier waren grauenhafte Morde geschehen.
Im vorletzten »Spiegel« stand ein Artikel über die inhumanen Praktiken bei »Aldi«. Die Reaktion des Bereichsleiters Süd, eines hohen Managers von »Aldi«, war folgende: Die Vorwürfe würden jeder Grundlage entbehren. Er selbst sei ein Verfechter des Humanismus, und bei »Aldi« ginge es jederzeit korrekt und human zu. Wenn man so etwas liest, dann ist man froh, dass Claus Peymann kein Humanist ist.
Sie sehen, das Peymann-Bild, welches ich vor Ihnen zeichne, legt einen tieferen Humanismus frei, den des wütenden Kämpfers gegen Unmenschlichkeit, gegen Menschen- und Sprachzerstörung. Er liebt die Menschen auf seine Weise, indem er ihnen den Spiegel vorhält. Wenn er beim Hochhalten des Spiegels gehörig ins Schwitzen gerät und herumschreit, dann liegt das daran, dass er sich die schwersten Spiegel aussucht, mit einer großen Spiegelfläche, in der sich möglichst viele Menschen spiegeln sollen.
Peymann liebt die Autoren und schützt ihre Sprache, und mit dieser Haltung wird er einer der Letzten seiner Spezies sein, der letzte Mohikaner der Texttreue, ein Verteidiger und Bewahrer des Urheberrechts. Die Zukunft wird den Piraten gehören, solchen in und solchen außerhalb des Theaters. Die sind im Computer geboren, im Internet aufgewachsen, aus dem sie alles heraussaugen, was ihnen nicht gehört und es so lange zerschnetzeln und vermischen, bis es der eigenen geistigen Augenhöhe entspricht. Dabei fühlen sie sich frei und kreativ, aber es ist die Freiheit des Diebstahls!
Am Ende meiner Rede muss ich noch von einem echten Akt der Inhumanität reden, den Peymann mir gegenüber begangen hat. Ich habe es lange in mir versenkt, aber jetzt, vor der Wolfenbüttler Weltöffentlichkeit, muss es heraus: Als wir in seinem Hause an einem meiner neuen Stücke arbeiteten, bestellte er telefonisch vor mir eine Pizza, ohne mich zu fragen, ob ich auch eine wolle. Das ist für einen Halbitaliener wie mich ein schweres Vergehen.
Lieber Claus, ich gratuliere Dir, dass Du kein Humanist bist und ich gratuliere mir, dass sich einen Menschen wie Dich zum Freund haben darf, Pizza hin, Pizza her.
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