Traumjob Trauerarbeit

»Alpen« von Yorgos Lanthimos

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist eine Idee, so eiskalt wie die Gipfel der Alpen, nach denen sich die Menschen nennen, die sie in die Tat umsetzen: sich bei der Trauerfamilie anzubieten als ein temporäres Surrogat für einen Frischverstorbenen. In Gegenwart seiner Eltern, seines Partners, seiner Freundin die Lieblingskleidung des Toten zu tragen, seine Lieblingssätze zu rezitieren, seine typischen Gesten auszuführen, typische Tätigkeiten nachzuahmen. Die schmerzende Lücke zu füllen - mit einer lebenden, atmenden, stundenweise zu honorierenden Aufblaspuppe von einem temporären Ersatz.

Mont Blanc nennt sich der Anführer der seltsamen Truppe, die sich nach Feierabend in einer Turnhalle trifft, um neue Einsätze zu besprechen, und wie der Mont Blanc ist er auch. Kantig, kalt, unbezwingbar. Krankenpfleger, Turnerin, Trainer und noch eine Krankenschwester, das sind die bürgerlichen Berufe der vier, die in ihrer Freizeit Trauernde »trösten«, indem sie ihnen helfen, den Anlass für ihre Trauer zu verdrängen. Die allen Ernstes - und mit dem mal eher zögerlichen, mal aktiv eifrigen Einverständnis der Hinterbliebenen - so tun, als ob ein beliebiger Frauenkörper in Tenniskleidung die tennisspielende Tochter ersetzen könnte, die an den Folgen eines Unfalls starb. Ausgerechnet die Rolle der Tennisspielerin ist es aber, die auch einer der Frauen aus der selbsternannten Gipfeltruppe ganz besonders wichtig wird.

Weil sie nicht mehr lassen mag von den vorgetäuschten Leben, weil ihr die Rollen nicht mehr reichen, die ihr die Gruppe zuweist, weil sie auf eigene Faust recherchiert und das Eintauchen in ein fremdes Leben probt und ausübt, tritt die latente Gewaltbereitschaft manifest hervor, die schon die ganze Zeit durch das perverse Treiben blitzte. Denn so wie der Mont Blanc der höchste Berg der Alpen ist, so versteht sich der »Mont Blanc« dieser stets gegen die Trauerarbeit anarbeitenden Trauerhelfer als der absolute Boss der Gruppe. Wer seine Autorität unterminiert - oder sie auch nur umschifft -, bekommt die Folgen ganz konkret zu spüren. Psychisch, indem die Rollläden runtergehen und die Abtrünnige aussperren aus dem Haus der Tennisspielerin-Hinterbliebenen. Und privat auch ganz physisch und überhaupt nicht mehr latent.

»Alpen« ist eine Speerspitze des neuen griechischen Kinos - ein Eindruck über die aufblühende Filmlandschaft wurde jüngst im Berliner Filmtheater Arsenal gegeben: originelle Gegenwartsgeschichten, überraschende Perspektiven. Vor kurzem tauchte mit »Attenberg« von Athina Rachel Tsangari (die Lanthimos' Filme produziert) ein Beispiel für die formal und inhaltlich beeindruckende Auseinandersetzung der griechischen Filmemacher mit den aktuellen Problemen des Landes auch schon einmal ganz regulär auf den hiesigen Leinwänden auf. Yorgos Lanthimos, der in »Attenberg« eine wichtige Nebenrolle übernahm, war vor ein paar Jahren international mit »Dogtooth« aufgefallen: eine Geschichte um Kindesmissbrauch, bizarr und brutal. Lügen, Halbwahrheiten, das Vorenthalten der Außenwelt sind sind dessen Methoden. Lanthimos erzählt fragmentarisch, »Alpen« ist ein - oft recht kleinteiliges - Mosaik von zunächst konkreten Alltagsbeobachtungen, die dann immer irgendwie schräg aus der geraden Bahn gleiten.

Das Draußen ist trist und gesichtslos wie in vielen jüngeren Filmen aus dem krisengeschüttelten Griechenland, das Drinnen ein ebenso verbissen betriebener wie hölzerner und zutiefst sinnloser Versuch der Täuschung und Selbsttäuschung, eine Art Familienaufstellung mit Eindringling, den man für sein absurdes Spiel auch noch bezahlt. Denn das Resultat der merkwürdigen Versuchsanordnungen ist eben gerade kein Aufheben der emotionalen Lücke, die die »Alpen«-Auftraggeber umtreibt, sondern deren Steigerung ins unerträglich Tragikomische. Für die Darsteller der Verstorbenenrollen - und da wird es dann wirklich tragisch - ist dieses Spiel im Einzelfall trotzdem die einzige als wahr erlebte Möglichkeit, überhaupt so etwas wie enge soziale Beziehungen aufzubauen. Oder jedenfalls auf Zeit auch und vor allem für sich selbst zu simulieren.

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