Blicke hinter die Mauer

Ingrid Körner tritt für behinderte Menschen ein

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
1966 oder 1967 stand Ingrid Körner in Hamburg erstmals vor der abgeriegelten Mauer der Alsterdorfer Anstalten. Schon damals fragte sich die Schülerin, was an den Menschen dort so anders sei, dass sie hinter hohen Absperrungen leben müssten. Heute ist Ingrid Körner Hamburgs Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen.

Eigentlich ist es ein Ehrenamt, in der Realität geht es um einen Vollzeit-Job: Seit dem Sommer 2011 ist Ingrid Körner in Hamburg Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen. Ihre Aufgabe ist es, »aus einer unabhängigen Position heraus als Mittlerin zwischen Bürger und Verwaltung tätig zu sein. Dabei ist sie Ansprechpartnerin für behinderte Menschen sowie deren Verbände und geht ihren Anfragen, Beschwerden und Anregungen nach«. So lautet die offizielle Beschreibung für das Kräfte zehrende Amt. Wer bei der 65-jährigen Körner allzu kurzfristig um einen Termin bittet, scheitert oft an ihrem rappelvollen Terminkalender.

Der Begriff »›Behinderte‹ in der substantivierten Form ist out«, korrigiert Ingrid Körner den Besucher zu Beginn des Gesprächs im Stil einer resoluten Studienrätin: »Das reduziert den Menschen auf dieses Attribut.« Besser sei es, von »Menschen mit Behinderungen« zu sprechen. Den Schuldienst quittierte die Lehrerin (Deutsch, Geschichte, Geografie) bereits vor 30 Jahren. Ihr Durchsetzungsvermögen hat darunter genauso wenig gelitten wie die Kenntnis der deutschen Grammatik.

Ängste und Vorurteile

Qualitäten, die nicht nur ihrer Tochter Friederike zugute kamen, sondern Generationen von Menschen mit Handicaps. »Rike« wurde mit Down-Syndrom geboren. Vor allem ihrer Mutter hat es die heute 35-Jährige zu verdanken, dass sie nicht an den Rand der Gesellschaft abgeschoben wurde, sondern deren aktives Mitglied ist.

Mit Grausen erinnert sich Körner daran, wie sie 1966 oder 1967 vor der abgeriegelten Mauer der Alsterdorfer Anstalten stand: »Ein Pförtner nahm dort die Pakete mit Altkleidern entgegen. Es war alles sehr merkwürdig.« Schon damals fragte sich die Schülerin, was an den Menschen so anders sei, dass sie hinter hohen Absperrungen leben müssten: »Ich versuchte, einen Blick nach innen zu erhaschen.«

Es wurden viele Blicke. Nach der Geburt von Rike, eines von vier Kindern der mit einem Volkswirt verheirateten Pädagogin, begann sie sich für Menschen mit Behinderungen zu engagieren. Sie fragte: »Was ist da? Was fehlt?« Es fehlte vieles. Zum Beispiel der Kontakt mit nicht behinderten Gleichaltrigen - und zwar in jeder Lebensphase.

»Weil das so war, gab es Berührungsängste, herrschte Unkenntnis. Vorurteile halfen, die Ängste in Kästchen zu packen und darin zu verstauen.« Körner setzte durch, dass Rike zehn Jahre zur Regelschule gehen und dann eine reguläre Beschäftigung in einem Hotel finden konnte - für damalige Verhältnisse war das revolutionär.

1986 gründete sie mit anderen Eltern die Landesarbeitsgemeinschaft Eltern für Integration e.V. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeitet sie im Bundesvorstand eines Selbsthilfeverbandes und Trägers von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Auch auf internationaler Ebene ist Körner aktiv. Seit 1990 sitzt sie im Vorstand der gemeinnützigen Organisation Inclusion Europe, die sich für die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt. Und seit 2009 ist Körner im Europäischen Behindertenforum aktiv. Das Engagement koste viel Zeit und Kraft. Deshalb wolle sie sich »dort allmählich ausfädeln«, sagt die Aktivistin, und sich auf ihre neue Tätigkeit in Hamburg konzentrieren.

Es gibt viel zu tun, um die Situation behinderter und betagter Menschen zu verbessern. Im Bereich Wohnen zum Beispiel. Körner favorisiert generell »gemischte Wohnformen«. Alten Menschen würde sie gerne mehr Betreuungsangebote zur Verfügung stellen: »Ich befürworte die Pflege in der eigenen Wohnung und im vertrauten Umfeld.« Von »Wohnsilos« für Betagte hält sie nichts: »Die bieten keine Anregungen und produzieren eher psychische Probleme.«

Bei Rudi Dutschke

Auch in Sachen Barrierefreiheit sieht die Senatskoordinatorin Nachholbedarf und nimmt den Staat in die Pflicht: »Es müssen genügend barrierefreie Angebote geschaffen werden.« Bei allen Trägern müssten Standards angehoben werden. Es dürfe nicht das Geld entscheiden, wie angenehm das Leben im Alter ist.

Spricht da etwa eine halbe Achtundsechzigerin? »Eine ganze«, bricht es aus Ingrid Körner heraus, die seinerzeit den Radikalenerlass kritisiert hat: »Natürlich hat mich das geprägt. Wir haben damals den Worten von Rudi Dutschke andächtig gelauscht.« Auch wenn Körner mit zunehmendem Alter sicherlich pragmatischer geworden ist, würde sich Rudi Dutschke wohl darüber freuen, was aus seiner einstigen Zuhörerin geworden ist.

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