Zombies gegen das Bildungssystem
Schüler machten gestern auf den steigenden Leistungsdruck aufmerksam
Karim trägt eine Kopfbandage. Seine Stirn ist blutverschmiert, seine Augen mit tiefschwarzen Ringen umrundet. Karim ist ein Zombie und er ist nicht der einzige. Schülerinnen und Schüler protestierten gestern am letzten Schultag zum Teil als Zombies verkleidet gegen die Bildungspolitik. Mit lauten Beats, die aus einem orangefarbenen Einkaufswagen schallten, machten sich die Jugendlichen mit einem »Rave der Bildungsleichen« von Prenzlauer Berg bis Mitte auf die Suche »nach Gehirn«. Initiiert wurde der Protest von der Berliner Schülerinitiative »Bildungsblockaden einreißen«.
»Fühlt ihr euch nicht auch manchmal wie Zombies? Das Gefühl, dir explodiert gleich der Schädel in der Mathestunde?«, tönt es aus den Boxen. Der Leistungsdruck führe zu einer Art »Bulimie-Lernen«. »Wissen wird reingestopft und nach der Prüfung wieder ausgekotzt.« Ein Zustand, der längst nicht nach Beendigung der Schule aufhört, wie Tine weiß. Die 26-Jährige macht inzwischen ihren Master in Umwelttechnik. Die strikten Module und hohen Anforderungen machen es kaum möglich, neben dem Studium zu jobben geschweige denn seinen Hobbys nachzugehen. Wer in der Regelstudienzeit fertig werden möchte, müsse entweder reiche Eltern haben oder gänzlich auf Freizeit verzichten, kritisiert Tine.
Insbesondere die Selektion innerhalb des Schulsystems sei trotz der Reformen ein großes Problem. »Die Reform ist ein fauler Kompromiss. Konsequent wäre nicht nur die Abschaffung der Hauptschule, sondern auch die des Gymnasiums gewesen«, so Tine. Statt Schüler in Kategorien zu unterteilen, müsse es eine Schule für alle geben.
Überfüllte Klassen und Unterrichtsausfall sind wegen des vorherrschenden Lehrermangels keine Ausnahmesituationen. Zwar hat Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gestern angekündigt, rund 450 Lehrer für das neue Schuljahr am 6. August einzustellen. Doch das wird den vorhandenen Bedarf nicht decken, wissen Experten. Allein die Umstellung auf Ganztagsschulen und das Fördern des inklusiven Lernens steigert den Bedarf an Pädagogen. Hinzu kommt eine hohe Zahl der in Rente gehenden Lehrer.
»Wir hatten wegen Lehrermangels häufig Unterrichtsausfälle. Dadurch hatten wir keine Gelegenheit auf Klassenfahrt zu fahren«, moniert Karim, der sich seit 2008 in der Initiative Bildungsblockade engagiert. »Wir fordern den Senat auf, in Bildung zu investieren, statt auf Turbo-Abitur und Elitenförderung zu setzen«, betont der 17-Jährige. Er könne zwar relativ gut mit Druck umgehen, seine Freundin mache sich jedoch »wegen guter Noten verrückt«. Eine kürzlich veröffentlichte Studie belegte indes, dass Schüler und Studierende immer häufiger an psychischen Krankheiten leiden.
Jan-Philipp geht zwar schon lange nicht mehr in die Schule, findet es jedoch wichtig, »für bildungs- und sozialpolitische Themen auf die Straße zu gehen«. Der 25-Jährige hat einen Hauptschulabschluss. Seit Jahren sucht er einen Ausbildungsplatz und das erfolglos. »Ich würde gerne eine Lehre als Maler und Lackierer machen, aber mit meinem Abschluss wollte mir bisher niemand eine Chance geben.«
Begleitet von einem unverhältnismäßig großen Polizeiaufgebot ist es den »Zombies« zumindest gelungen, viele Blicke der Passanten und Bewohner auf sich zu ziehen. Nicht immer trafen die Schüler dabei auf Verständnis. »Ich habe meinen Sohn aufs Gymnasium geschickt und möchte nicht, dass diese Schulform abgeschafft wird«, meint eine Passantin in Prenzlauer Berg. Katrin Döring hingegen bringt den Schülern viel Sympathie entgegen. »Meine Tochter geht in die Grundschule. Überfüllte Klassen und fehlende individuelle Förderung sind jetzt schon ein Problem.«
Mit der Vergabe der Zeugnisse starteten gestern mehr als 400 000 Schüler in die Ferien. 740 Kinder haben das Probejahr auf dem Gymnasium nicht bestanden. »Die Verwaltung ist derzeit immer noch mit der Unterbringung der Schüler überfordert«, kritisierte die Gewerkschaft für Erziehung (GEW). Um dem Problem der »Rückläufer« zu begegnen, sollen alle Sekundarschulen zwei Plätze frei halten, fordert die GEW. »Eine Schule für alle«, findet die Initiative.
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