»Ich möchte Spezialist werden«
Sigmund Jähn als Gesprächsgast bei Gregor Gysi im Deutschen Theater Berlin
Auf den samtenen Sessellehnen liegen schwere, kräftige Arbeitshände. Das Gespräch hat Pausen, in denen der Befragte sehr genau, geradezu instinktiv darauf achtet, eher weniger als zu viel zu sagen. Es ist, als wolle dieser 75-Jährige mittels Bescheidenheit in die Unkenntlichkeit fliehen - und wird doch auf eine beeindruckende, anrührende Weise nur kenntlicher denn je.
Immer wieder passt ihm das Außergewöhnliche, das erwiesen Gesteigerte seiner Existenz in drei Dämmungsworte: »Ich war beeindruckt.« Der Schock, nachdem der junge Flieger sich aus einem plötzlich triebwerktoten Jagdflugzeug katapultiert hatte, per Schleudersitz, und wie er unter sich die MIG sieht, mit gesprengtem Kabinendach, dann den Wald, in den sie rast, er knickt wie Streichholz, und Jähn am Fallschirm, eine surreale Szene: »Ich war beeindruckt.« Schwerste Seelenlagen, härteste Prüfungen, unvorhergesehene Prekärsituationen: »Ich war beeindruckt.«
Das besagte Außergewöhnliche ist Metier dieses Mannes, und er schaut, als verstehe er nicht, warum man danach fragt: Sigmund Jähn, erster Fliegerkosmonaut der DDR - mit Waleri Bykowski flog er am 26. August 1978 mit der Raumkapsel »Sojus 31« ins All. Der erste Deutsche dort oben! Er sah auf die Erde herab, wie man zu etwas - aufschaut. Wie jemand, »der nicht mehr dazugehört, plötzlich spürst du das Zerbrechliche der Dinge«. Das Selbstbewusstsein wächst (Kosmonauten sind Bezwinger!), und zugleich steigt die Demut (alle Größe verliert sich im Raum).
»Gregor Gysi trifft Zeitgenossen«: am jüngsten Sonntag am DT also traf er den Mann aus dem kleinen vogtländischen Morgenröthe-Rautenkranz - wie wohlklingend. Inzwischen heißt der Ort, nach Zusammenlegung mehrerer Gemeinden: Muldenhammer (die Mulde fließt durch die Dörfer, verbunden waren sie durch ein Hammerwerk). Muldenhammer! Wo Verwaltung schaltet und Bürokratie waltet, vergröbert alles Irdische. Schnell in den Weltraum! Dorthin, wo dem Kosmonauten Morgenröte bedeutete, alle 90 Minuten die Sonne aufgehen zu sehen, und wo man erschauern musste vorm Anblick der Atmosphäre, die sich blau wie ein Kranz um die Erde schmiegt. Schönste Aufgabe, von der Sigmund Jähn in seiner unverkennbaren Gefasstheit, ja Zügelung erzählt: neue Räume aufzureißen, ohne dass das wissende Lächeln der Wissenschaft frostig werden möge. Es geht immer darum, im kühn Erschlossenen noch das Unerschließbare feiern zu können.
Siegmund Jähn kommt aus einer Zeit, da die Lehrer in den Schulen noch prügelten. »Ich sah auf mein Schreibheft. Es färbte sich rot. Meine Nase blutete.« SA-Mann oder Lehrer, da war kein Unterschied. Wer nach solcher Schilderung dann von Neulehrern schwärmt und vom »Brechen eines Bildungsprivilegs«, der weiß, wovon er redet. Und wofür er sich einsetzt fürderhin. Er geht zur Kasernierten Volkspolizei, denn ein Freund hatte ihm erzählt, dort würden »Spezialisten« gesucht. Oh! Spezialist wäre man gern! Flugzeugführer! Tatsächlich äußerte Jähn seinen Wunsch dann so: »Ich möchte Spezialist werden.« Was den Vorgesetzten etwas irritierte: »Hier wird nicht gewünscht.«
Um es kurz zu machen, denn auch Jähn möchte es kurz machen, nur fragt und fragt dieser Gysi, gefüttert mit Details aus des Kosmonauten Autobiografie, und Jähn entfährt es mehrmals staunend: »Der hat ja alles gelesen!« - um es also kurz zu machen: Der junge Kader wird Jagdflieger, eine irrtümliche Blutkörper-Analyse machte beinahe noch einen Strich durch die Rechnung, aber Jähn hat, was er auffällig oft vor seine Leistungen stellt: Glück. Natürlich sind seine Leistungen größer, beständiger als der bloße Zufall des glücklichen Umstands.
So wird er eines Tages Kosmonauten-Kandidat. Der Mann, der die Technik liebt. Der seine Grundhaltung zur Präzision so formuliert: »Ein Flugzeug hat man gefälligst mit Sie anzureden.« Und dessen erwähnte Bescheidenheit das Publikum ins Lachen versetzt, etwa, wenn er nach Haupteigenschaften für höhere fliegerische Weihen gefragt wird: »Ach, man muss nur ein ordentlicher Mensch sein.« Ins Raumschiff wird er übrigens den Fetzen einer verkohlten Flugkarte mitnehmen - sie stammt aus den Trümmern jener MIG, aus der sich Jähn einst per Schleudersitz gerettet hatte.
Über Angst erzählt er, die man durch gute Vorbereitung tilgen kann, über Furcht, die man auf keinen Fall tilgen sollte, um nicht dem Leichtsinn zu verfallen, und auch das DDR-spezifische Problem wird angesprochen, dass es enorm schnellen Jagdfliegern stets schwer fiel, mit dem kleinen Territorium des Landes klarzukommen. Wieder Heiterkeit. Die sich steigert, als Jähn vom Andocken an die Raumstation erzählt, wo Bykowski und er schon erwartet werden - Jähn unter anderem auch deshalb, weil endlich jemand da ist, der den Sowjets das sich an Bord befindliche Pornoheft übersetzen kann.
Der Raketenstart: Wie war denn das, wenn man in neun Minuten auf über 200 000 Stundenkilometer beschleunigt? »Ich war beeindruckt.« Am Schluss dieser zwei Stunden im Deutschen Theater: stehende Ovationen für den »Spezialisten«, der wirklich einer ist. Sogar ein Asteroid, an der Schwelle zur Unendlichkeit, trägt seinen Namen.
Gysi bekennt, er habe sich damals »regelrecht verliebt« in den Kosmonauten Jähn. Der sei nämlich von Journalisten bestürmt worden, die hätten pflichtgemäß Superlative aufgehäuft; ein Mensch musste unter solchem Lobesberg schier ersticken - Jähn aber habe sich alles angehört, nah an Mikrofon und Kamera und zugleich kosmosweit entfernt, und dann habe er, so erinnert sich Gysi, sehr ruhig gesagt: »Ach, wissen Sie, die Sache ist doch ganz einfach: Die Rakete nimmt Sie mit, ob Sie nun Charakter haben oder nicht.«
Man ist beeindruckt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!