Wie entsteht Wirklichkeit?
Paul Watzlawick zum 80.Geburtstag
Paul Watzlawick hat die Welt verändert, indem er sie beschrieben hat. In unzähligen Veröffentlichungen (u.a. »Die erfundene Wirklichkeit«, »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?«, »Münchhausens Zopf«) hat er ihr den Glauben in die eine Wahrheit nachhaltig ausgetrieben.
Der Kommunikationswissenschaftler Watzlawick greift in ein Füllhorn absurder Bei- und Gedankenspiele, um seinen Lesern zu demonstrieren, dass die Welt nicht so ist, wie sie sich zunächst darstellt. Sie ist von der Art und Weise abhängig, wie wir auf sie blicken; demzufolge sind wir schon qua Wahrnehmung Konstrukteure von Welt. Etwa der Mann, der sich vom Nachbarn einen Hammer borgen möchte, dann aber überlegt, dass dieser ihm den Hammer vielleicht nicht leihen möchte, ihn womöglich gar nicht leiden kann. Schon gestern hat er nicht gegrüßt! Schließlich geht der Mann zum Nachbarn herüber und schreit ihm ins Gesicht: »Ich brauche Ihren Hammer nicht!«.
Noch schlimmer wird es, wenn zwei Personen miteinander interagieren. Wenn die erste beispielsweise fragt: »Diese Suppe ist nach einem ganz neuen Rezept - schmeckt sie dir?« Schmeckt sie scheußlich, hat die zweite Person ein Problem. Sagt sie »ja«, weil sie den Koch nicht kränken will, riskiert sie, bald wieder mit der neuen »Lieblingsspeise« traktiert zu werden. Und das nur, weil man Objektebene (Suppe schmeckt nicht) nicht von Beziehungsebene (bloß nicht verletzen) trennen kann. Selbst vermeintlich richtige Kommunikation - »Die Suppe schmeckt mir nicht, aber ich bin dir herzlich dankbar für die Mühe, die du dir damit gemacht hast.« - führt kaum dazu, dass der Koch dem Bekochten um den Hals fällt.
Watzlawick, mittlerweile hochdekorierter Psychologe und Kommunikationsforscher (vor allem am legendären Mental Research Institute in Palo Alto sowie der renommierten Stanford University), lässt oft durchblicken, sein Gespür für verzwickte Situationen sei vom heimatlichen Kärnten geprägt. Man habe als Österreicher das Gefühl, am Schnittpunkt verschiedener Kulturen und Sprachen zu stehen. Halbitaliener von der Mutter her, studierte der am 25. Juli 1921 Geborene in Venedig und wurde 1957 Dozent in El Salvador. Auf dem Rückweg nach Europa blieb er 1960 in den USA hängen. Seitdem pendelt er zwischen Neuer und Alter Welt. Durch das Pendeln sind ihm beide Welten noch erträglich, ist in »Gebrauchsanweisung für Amerika« zu erfahren.
Als echter Österreicher weiß Watzlawick um die positive Kraft von Missverständnissen. So lobt er die staatstragende Paradoxie des bis zum 1.Weltkrieg verliehenen Maria-Theresien-Ordens. Ihn erhielten Offiziere, »die aus eigener Entscheidung und unter Missachtung erhaltener Befehle den Verlauf einer Schlacht zum Sieg lenkten.« Der Psychologe Watzlawick begeistert sich für »verlogene« Therapien wie diese: Anlässlich einer Strafexpedition kommt eine österreichische Armeepatrouille in ein albanisches Dorf. Keiner der Österreicher spricht albanisch, keiner der Dorfbewohner eine in der k.u.k.-Armee akzeptierten Sprache. Es findet sich ein Dolmetscher, der fortwährend falsch übersetzt, so dass der Kommandant den Eindruck gewinnt, die Dorfbewohner sehen ihre Fehler ein, während die Dorfbewohner denken, der Offizier gebe ihnen Recht. Zum Schluss bieten die Dörfler den Soldaten Geschenke wegen ihres Verständnisses an; der Übersetzer verleitet den Offizier, zu glauben, es handle sich um Wiedergutmachungen.
Watzlawicks Bestseller »Anleitung zum Unglücklichsein« (aus der die Beispiele mit Hammer und Suppe stammen) kann man als Therapie eines Zeitgeistes lesen, der immerfort Glücklichsein befiehlt. Mit einem Vorwurf muss Paul Watzlawick, obwohl schon 80, weiter leben. Weil er Wahrheit als fließend, als abhängig von der Beobachterposition sieht, wird er als Apostel eines neuen Nihilismus gesehen. Er zersetze Wirklichkeit und löse ethische Prinzipien auf. Wo nichts mehr gelte, herrsche Chaos. Aber aus der Idee des Konstruktivismus ergeben sich zwei Konsequenzen. Erstens die Toleranz für die Wirklichkeiten anderer - sie haben genau so viel Berechtigung wie die eigene. Und zweitens ein Gefühl der absoluten Verantwortlichkeit. Wer glaubt, seine eigene Wirklichkeit herzustellen...
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