Abpfiff! Was nun?

Die EM-Gastgeber: In der Ukraine stärkt das Turnier die Parallelgesellschaft der Oligarchen - Polen feiert seine endgültige Ankunft in Europa. Ronny Blaschke und Thomas Dudek berichten aus Kiew und Warschau.

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Ronny Blaschke, Kiew

Niemand kann beziffern, wie hoch die Investitionen der Ukraine waren. Laut Schätzungen sollen sie bei rund zehn Milliarden Euro liegen, das entspricht neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Entstanden sind Projekte, die überfällig waren: Flughäfen, Hotels, Autobahnen, Schnellzüge. Entstanden sind auch Projekte, deren Zukunft ungewiss ist: das Stadion von Lwiw, 220 Millionen Euro Baukosten für drei EM-Spiele. Die Instandhaltung wird zweieinhalb Millionen beanspruchen. Pro Jahr. Es haftet der Steuerzahler, wie immer nach Sportereignissen.

Die ukrainischen Funktionäre verweisen auf andere Städte, Donezk. Dort hat der Milliardär Rinat Achmetow das Stadion seines Vereins Schachtjor im Alleingang bezahlt. Eine Fünfsternearena, die die Ukraine näher an Europa heranführen soll, fußballerisch.

Auch politisch? Die Oligarchen sollen die Hälfte aller Investitionen getragen haben. Für die Projekte hatte es keine Ausschreibungen gegeben. Die Oligarchen verantworten nun Errungenschaften des Gemeinwesens, für die eigentlich der Staat zuständig ist. Oligarchen nutzen Parteien, Medien oder Sportvereine für ihren Machterhalt. Klassische Grenzen zur Rechtsstaatlichkeit gibt es nicht. Die EM ist ohne Pannen über die Bühne gegangen, sie stärkt die Parallelgesellschaft der Oligarchen.

Und damit auch Wiktor Janukowitsch? Der ukrainische Präsident hat sich während der EM zurückgehalten. Keine Auftritte, keine kritischen Fragen. Im Oktober stehen Wahlen an. Es ist zu vermuten, dass mit dem Abpfiff das mediale Interesse schwindet. Damit auch der Handlungsdruck auf westliche Politiker, die vor sechs Wochen noch einen EM-Boykott gefordert hatten. Wie wird Janukowitsch dieses Vakuum nutzen? Wird er die letzten Protestlager für Julia Timoschenko räumen lassen?

Wir Medien müssen feststellen, dass wir vor dem Turnier auch falsche Themen gesetzt haben: Sextourismus, das Schlachten von Straßenhunden, utopische Hotelpreise. Keiner der vorhergesagten Skandale wurde wahr. Stattdessen wurden Themen überdeckt, für die sich nun das Fenster der Öffentlichkeit schließt: die hohe Aids-Rate, Defizite in Bildung und Gesundheit, strukturelle Benachteiligung von Minderheiten. Viele Reporter schrieben in ihren lustig gemeinten Randnotizen über aggressiv fahrende Taxifahrer, gefährlich ruckelnde U-Bahnen, aufreizend gekleidete Damen. Sie verorten Mitteleuropa als Zentrum der Welt. Lassen sich nicht auf die Menschen ein. Nicht auf kulturelle Eigenheiten, die das Verhalten geformt haben. Es ist nicht überraschend, dass die meisten Deutschen über Lebensrealitäten anderer Länder nur das erfahren, was sie seit langem zu wissen glauben. Das hemmt das Verschmelzen Europas.

Dabei haben die freiwilligen ukrainischen Helfer keinen Zweifel daran gelassen, dass die EM für sie das größte Ereignis überhaupt gewesen ist. Sie waren freundlich, hilfsbereit, haben über Monate Englisch gelernt. Die Touristen, die sich trotz der Hysterie nicht von einer Reise abbringen ließen, werden wiederkommen, ins pochende Kiew oder ins schöne Lwiw. Man sollte in einer Debatte um ein Austragungsland also stets politisch argumentieren. Die überwältigende Mehrheit der Ukrainer möchte nämlich nicht auf ihre politischen Führer reduziert werden.


Von Thomas Dudek, Warschau

Für ihre Sportberichterstattung ist die polnische Tageszeitung »Dziennik Gazeta Prawna« nicht gerade berühmt. Während der EM blieb die Wirtschaftszeitung ihrer Linie treu und widmete nur den Spielen der polnischen Nationalmannschaft eine Meldung auf ihrer Titelseite. Doch am Montag überraschte die Zeitung. Die Titelseite war in den polnischen Nationalfarben gestaltet und resümierte die EM: »Spanien Meister und eine Medaille für Polen. Der organisatorische Erfolg erlaubt über Olympische Spiele an der Weichsel nachzudenken.«

Schlagzeilen wie diese waren am Montag keine Ausnahme. Auch »Polska The Times« regte eine Olympiabewerbung Polens an, während andere Zeitungen, wie zum Beispiel Polens größtes Sportblatt »Przegląd Sportowy«, den Vorschlag des Stadtpräsidenten von Gdańsk, Paweł Adamowicz, aufgriff und eine Bewerbung Polens um die Fußballweltmeisterschaft 2026 forderte.

Schlagzeilen, die vor einem Monat so noch undenkbar waren und die zeigen, wie sehr sich Polen in den letzten drei Wochen verändert hat. Durch eine reibungslose Organisation, durch eine drei Wochen andauernde Party, während der die Polen nicht nur mit den ausländischen Fans, sondern auch sich selber feierten. Und vor allem: Durch die Begeisterung der ausländischen Gäste für das Land und die Gastfreundschaft wich der für Polen bisher so typische Fatalismus einem scheinbar grenzenlosen Selbstvertrauen. »Die Erfahrung sagt mir, dass es sich in Polen besser lebt nach großartigen und die Gesellschaft begeisternden Ereignissen«, sagte Ministerpräsident Donald Tusk in einem Interview für den staatlichen Fernsehsender TVP und scheute sich nicht, die EM mit der Solidarność-Bewegung zu vergleichen.

Stolz und Selbstvertrauen sind nicht unbegründet. Die Polen haben nicht nur sich, sondern auch dem Ausland, das bis kurz vor Turnierbeginn unfertige Stadien voller glatzköpfiger Faschisten fürchtete, ihre endgültige Ankunft in Europa bewiesen. Und das Land wird auch in den nächsten Jahren von der EM profitieren. »Die neuen Straßen, die neuen Straßenbahnen und Busse. All die renovierten Züge. All dies würde es heute nicht geben«, sagt Jacek Wojciechowicz. »Zumindest nicht jetzt. Die Investitionen waren zwar geplant, wurden jetzt aber schneller realisiert«, fügte der stellvertretende Stadtpräsident von Warschau hinzu.

Der Einzige, der einen Schatten auf das polnische Sommermärchen wirft, ist die nationalkonservative PiS von Jarosław Kaczyński. »Die EM war ein Reinfall«, verkündete der ehemalige Regierungschef, nur 600 der angekündigten 4000 Straßenkilometer wurden realisiert.

Eine Mahnung, die berechtigt ist, die aber auch mit einer Gegenfrage zu beantworten ist. Konnte Polen seinen infrastrukturellen Rückstand wirklich in den wenigen Jahren seit Vergabe der EM 2007 aufholen? Zudem lenkt diese Frage von einem weiteren Problem ab: Wie lassen sich die neuerrichteten Stadien erhalten? In Gdańsk, Wrocław und Poznań wird zwar Erstligafußball gespielt, doch zu polnischen Ligaspielen kommen im Durchschnitt 9 000 Zuschauer. Doch diese Stadien werden wenigstens genutzt. Im Warschauer Nationalstadion werden künftig nur gelegentlich Sportereignisse und Konzerte stattfinden.

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