Lebenslang, für Syrien

Nach 18 Jahren Haft floh der Syrer Habib Saleh ins deutsche Exil, von hier unterstützt er nun die Revolution

  • Jenny Becker
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Syrer Habib Saleh war sechs Mal im Gefängnis, weil er gegen Assad anschrieb. Fast 18 Jahre seines Lebens verbrachte er in Haft. Jetzt hat er in Deutschland Asyl gefunden und versucht von hier, die Opposition zu unterstützen. Sobald wie möglich will er in sein Land zurück.

Er hat nicht einmal den Mantel abgelegt, schon stürzen seine Gedanken ganze Jahrzehnte in die Geschichte Syriens zurück. Habib Saleh steht im Türrahmen seines Wohnzimmers in Berlin-Charlottenburg, sehr aufrecht und ein wenig außer Atem, obwohl er die Stufen in den ersten Stock bedächtig hinaufgestiegen ist. Vielleicht wiegen seine 65 Jahre schwerer als andere. Sein Wortschwall spült mehrere Militärputsche ins Zimmer, die Machtübernahme durch Hafiz al-Assad, das Regime seines Sohnes und Nachfolgers Baschar, Unterdrückung und Korruption. Dabei war die Frage nur, wie er geschlafen habe.

Habib Saleh ist aus Syrien geflohen, seit einem halben Jahr lebt er als anerkannter politischer Flüchtling in Deutschland, seit drei Wochen in der Einzimmerwohnung in dem gutbürgerlichen Bezirk der Hauptstadt. In der Nähe flanieren junge Menschen durch die Einkaufszone, in seiner Straße reiht sich ein Café an das nächste. Habib hat noch keines von ihnen besucht. Er fährt täglich ans entgegengesetzte Ende der Stadt, nach Neukölln, wo andere Syrer leben. Der Kontakt ist wichtig, er will etwas tun für sein Land. Deshalb ist Habib Mitglied im Syrischen Nationalrat, in dem sich die Exilopposition organisiert.

Er kennt nur ein Thema: Syrien

Seit Jahresbeginn sind schon über 1200 Syrer nach Deutschland geflohen, es werden immer mehr. Im Mai waren es 362, etwa doppelt so viele wie zwei Monate zuvor. Syrien gehört damit zu den Ländern, aus denen die meisten Asylbewerber kommen. Viele versuchen von hier aus, die Opposition zu unterstützen. Seit Mai gilt für alle ein Abschiebeverbot.

Ob man sich nicht setzen wolle für das Gespräch, fragt die Reporterin, die immer noch mit Habib im Eingang steht. »Natürlich, bitte!« Er weist auf einen Stuhl neben der Pritsche, räumt den Papierstapel vom Sitz, hinüber auf die unbezogene Matratze, wo noch mehr Papiere liegen und der Laptop. Er entschuldigt sich für die Unordnung. Er habe es nicht geschafft aufzuräumen. Auf dem Parkett steht ein aufgeklappter Reisetrolley, aus dem Kleidung quillt.

Den zweiten Stuhl zieht Habib mehrere Schritte in die andere Richtung, bevor er sich setzt. Es wirkt sehr weit weg. Sein schwarzer Filzmantel spannt ein wenig über dem Bauch. Er wird ihn anbehalten, den ganzen Nachmittag in diesem Zimmer, während er erzählt, wie er als Journalist gegen den Assad-Clan anschrieb, erst den Vater, dann den Sohn. Beide ließen ihn einsperren, sechs Mal insgesamt. Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und sogar die EU-Regierungschefs setzten sich erfolglos für seine Freilassung ein. Fast 18 Jahre seines Lebens verbrachte Habib in Gefängnissen. Er wird den Mantel auch anbehalten, wenn er versucht vorzumachen, wie sie seinen Körper verbogen haben, bei der Folter.

Eigentlich wollte Habib Saleh Professor werden. Er hat in Damaskus Englische Literatur studiert, dann einen Master in Journalismus gemacht, in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Natürlich durfte er in Syrien nicht an der Universität unterrichten, er stand nicht loyal zur Regierung. Offiziell konnte er auch nie als Journalist arbeiten. Er schrieb für ausländische Zeitungen, libanesische, ägyptische, englischsprachige.

Wenn Habib Saleh redet, ruhig auf seinem Stuhl, wirkt er dennoch wie ein Professor. Bügelfaltenhose, weiße Haare, die Hände in Bewegung wie ein sparsamer Dirigent. Er kennt nur ein Thema: Syrien. Darüber kann er Vorträge halten, mit lauter Stimme, das breite Gesicht angespannt. Viele seiner Sätze beginnen mit »In Syrien ...« und beschreiben willkürliche Verhaftungen, Polizeistaat, das Erbfolgeregime. Wie von selbst stellt er dem stets ein anderes Wortheer entgegen: Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherheit.

Einzelhaft, mit Millionen Flöhen

Zumindest als Ideen sind ihm die Worte alte Vertraute. Nach dem Tod von Hafiz al-Assad im Jahr 2000 tat Habib Saleh im sogenannten Damaszener Frühling nichts anderes, als über sie zu diskutieren. Er gehörte zu den Führungsfiguren der Bewegung. Wie andere Intellektuelle im ganzen Land veranstaltete er einen Salon in seinem Haus in der Mittelmeerstadt Tartus. Er lieh sich Stühle aus Cafés und stellte das Zimmer damit voll. Oft saßen 70 Menschen beisammen, lauschten dem Vortragenden an seinem kleinen Tisch, und begannen angeregte Debatten. Bis der neue Machthaber Baschar die Salons schließen und die Organisatoren einsperren ließ. Für Habib bedeutete das: Isolationshaft, fünf Jahre lang.

»Einen Meter und neunzig Zentimeter war die Zelle lang. Ich habe sie viele Male gemessen.« Er spreizt Daumen und Zeigefinger, 21 Zentimeter Spannweite, und bewegt sie entlang einer imaginären Linie. Die 90 Zentimeter in der Breite reichten nicht einmal, um die Arme auszustrecken. Es gab ein WC, das war Luxus. Außerdem eine schwarze Metalltür mit schweren Riegeln und einem Guckloch in der Mitte, durch das Essen gereicht wurde. Habib nennt es »Fenster«. Das Schlimmste waren die Flöhe in den beiden Decken, aus denen der Schlafplatz bestand. »Es waren Millionen. Millionen!« Auf der krausgezogenen Nase hebt sich die Brille, Habib kneift die Augen zusammen, kratzt sich am Oberschenkel. »Sie waren überall, haben gebissen. Ich stand auf, legte mich hin, drehte mich rechts, drehte mich links, drehte ...« Stille. »Ich hoffe, dass wir es eines Tages schaffen, Assad zu stürzen. Ein Syrien mit Assad darf niemals weiter existieren.«

Als er im Mai 2011 aus seiner letzten Haft freikam, schloss er sich sogleich den Protesten an. Und hätte er nicht um sein Leben fürchten müssen, er wäre geblieben. »Vor der Revolution steckten sie dich ins Gefängnis, erniedrigten dich, und nach ein paar Jahren kamst du wieder frei. Aber diesmal bringen sie alle direkt um.« Den Aufstand kann er nur unterstützen, wenn er lebt.

Nun verbringt er die Nächte mit dem Laptop, via Skype hat er Kontakt zu 15 Revolutionskomitees. Sie sagen ihm, wie viele Tote es gab, und senden Videos, die er an interessierte Medien weiterleitet. Außerdem reist Habib viel, gibt Interviews, hält Vorträge. Nach dem Aufstehen verlässt er seine Wohnung sofort, er trinkt in diesem Zimmer nicht einmal Tee. »Ich kann hier einfach nicht allein bleiben.« Hafterinnerungen? »Vielleicht.«

Vielleicht fehlen ihm auch seine Frau und die zwölfjährige Tochter, die in Syrien zurückbleiben mussten. Yara wurde geboren, während Habib in der Zelle mit der schwarzen Tür saß. Ihr ganzes Leben war er nie länger als acht Monate hintereinander frei. Jetzt telefoniert er mit ihr, so oft es geht. Woher nimmt er die Kraft, immer wieder zu kämpfen? »Es ist menschliche Entschlossenheit. Wenn du unterdrückt wirst, betrogen und erniedrigt, dann reagierst du entschieden. Dann versuchst, du deinen Stolz zu retten und dich zu rächen, für das Leid, das dir so ungerecht zugefügt wurde.« So lange Assad nicht stürzt, sei alles vergeblich gewesen.

Auch der Tag im Jahr 1994, als sie ihn in den Metallring eines Autoreifens pressten, zusammengeklappt wie ein Taschenmesser. Er lag auf dem Rücken, die Füße in der Luft. Dann setzten sie die Stromschläge. »Ich fühlte ...«, er schüttelt den Kopf. Seine Stimme ist weich, als spräche er zu einem Vogel, den er nicht aufschrecken will, aus Angst ihn nicht mehr einzufangen. »... großen Schmerz.« Sie hielten ihn für einen Fundamentalisten, wie 1976, als er das erste Mal ins Gefängnis musste. Da war er 29 und hatte angeblich die Muslimbrüder unterstützt. Dabei ist er nicht gläubig.

Nach Assads Sturz will er vermitteln

Er fürchtet eine religiöse Spaltung der Revolution. Und es gibt noch eine Sorge: einen möglichen Bürgerkrieg nach dem Sturz von Assad. Habib sieht es als seine Aufgabe, dann zusammen mit anderen Exilsyrern heimzukehren und zu vermitteln. »Uns respektieren sie.« Uns, das sind die Organisatoren des Damaszener Frühlings, das sind jene, die im Gefängnis waren, lange vor der Revolution, lange vor Gründung des Syrischen Nationalrats.

»Ich möchte ... nach Syrien zurück ... wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin«, sagt Habib, und die Tränen, die ihm in die Augen treten, scheinen auch über seine Stimme zu rollen. Syrien. Plötzlich klingt es nicht mehr nach einer Festung, die erobert werden muss. Sondern wie ein dickbäuchiges Schiff, das Platz für alle bietet.

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