Noch am Leben
Pearl Jam begeisterten in der O2-World
Was haben Rockstars im Gegensatz zu Popsternchen doch für ein Glück. Wenn sie keinen Heavy Metal oder Glamrock in Verkleidung praktizieren, können sie die bei Liveshows Einzug gehaltene, lästige Gigantomanie aus Tänzern, Videowänden und Zirkusgimmicks achselzuckend ignorieren. Weißes Licht statt Strobo-Gewitter, T-Shirts statt Kostümwechsel, eine verzerrte Gitarre statt Kammerorchester. Die Liebhaber des Genres danken den Verzicht auf unnötigen Firlefanz nicht nur, sie fordern ihn ein. Angesichts ihrer extrem treuen und geerdeten weltweiten Fangemeinde sind die US-Rocker von Pearl Jam besondere Glückspilze. Bei ihrem Konzert in der O2-World am Mittwochabend ruhten sie denn auch nicht, bis sie diese »Schuld« beim Publikum in Form von reinster Rock-Energie auf Heller und Pfennig beglichen hatten.
Wenn sich je ein Publikum und eine Band gesucht und dann auch gefunden haben, dann bei dieser Show. Die war von Beginn an bestimmt von einem beiderseitigen Geben und Nehmen, das in solcher Innigkeit tatsächlich phänomenal war. Nun sind Pearl Jam, die einst gemeinsam mit Nirvana oder Soundgarden von Seattle aus den Grunge in die Welt trugen, seit 20 Jahren berühmt für ihre intensiven Auftritte. Doch spätestens seit beim Roskilde-Festival 2000 während einem Pearl-Jam-Konzert eine Panik im Publikum acht Tote forderte, gesellt sich zum professionellen Ausrasten auf der Bühne immer auch eine bemerkenswerte Sorge ums leibliche Wohl der Anhängerschaft.
Ein Moment demonstrierte sowohl diese Empathie als auch die absolute Hörigkeit der 12 000 Fans in der ausverkauften Halle. Zum Schutze der dicht gedrängten ersten Reihen, forderte Frontmann Eddie Vedder das gesamte Publikum auf, drei Schritte zurückzutreten. Das Bild, wie tausende tätowierte Grunger dieser »spießigen« Aufforderung sofort geordnet Folge leisteten, gehört wohl zu den rührendsten und seltsamsten der neueren Rockgeschichte.
Musikalisch boten Pearl Jam harten Rock der alten Schule, schnörkellos und in schönem Wechselspiel aus Balladen und punkigen Gassenhauern. Doch nicht nur die eigene Historie wurde mit »Long Road« über »Why Go« bis zu neueren Werken wie »The Fixer« oder »Faithfull« abgearbeitet. Zwischendurch wurde aus 10 000 Kehlen »Happy Birthday« für die auf die Bühne geholte Mutter des Gitarristen gegrölt - beileibe nicht der einzige menschelnde Moment des Abends.
Fehlen durfte auch die Verneigung vor großen Kollegen nicht. So folgte inspiriert vom Besuch der Band im Berliner Ramones-Museum eine mitreißende Version von »I believe in Miracles« aus der Feder der Surf-Punk-Erschaffer. Als eine der vielen Zugaben beim zweieinhalb-stündigen Gitarrenfest wurde »Keep on rockin' in a free world« herausgehauen - ein Hit von Neil Young, den die Combo in den 90er Jahren bei Aufnahmen und Konzerten unterstützte.
Sänger Eddie Vedder war allerdings zeitweise überflüssig: Bei Refrains und kultigen Textzeilen übertönte ihn regelmäßig ein gigantischer Publikumschor, besonders natürlich bei der Bandhymne »Alive«. Denn das ist schließlich ein Hauptgrund für den Besuch solcher Konzerte. Zu spüren: Ich bin noch am Leben. Am Mittwoch fühlten sich wahrscheinlich nicht wenige für kurze Zeit geradezu unsterblich.
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