Versteckspiel im Mikrokosmos

Warum sich Physiker so schwer tun, die Existenz des Higgs-Bosons experimentell nachzuweisen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach der Begründung der Quantenmechanik glaubten viele Physiker, dass es keine atomare Realität ohne beobachtendes Subjekt gebe. Nicht so Albert Einstein, der sich beharrlich weigerte, an der realen Existenz der Außenwelt zu zweifeln. Für ihn war und blieb die Physik »eine Bemühung, das Seiende als etwas begrifflich zu erfassen, was unabhängig vom Wahrgenommen-Werden« existiert. Zu᠆gleich warnte er jedoch, die geistige Erfassung der Realität als eine Eins-zu-Eins-Abbildung misszuverstehen. Denn von der Erfahrung, so Einstein, führe kein direkter logischer Weg zu den Begriffen und Sätzen der Physik. Diese seien vielmehr »freie Schöpfungen des menschlichen Geistes«, die sich im Zuge des physikalischen Erkenntnisfortschritts immer weiter von der Anschauung entfernten. Am Ende allerdings müsse auch die abstrakteste Theorie, um anerkannt zu werden, Voraussagen erlauben, die einer experimentellen Prüfung zugänglich seien.

Als freie Schöpfung des menschlichen Geistes darf auch das sogenannte Higgs-Boson gelten, das kürzlich am Large Hadron Collider (LHC) des europäischen Kernforschungszentrums CERN mit großer Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wurde. Sollte sich dies bestätigen, wären zwischen der theoretischen Einführung dieses Teilchens und seiner experimentellen Entdeckung fast 50 Jahre vergangen. Zum Vergleich: Das Neutrino, das Wolfgang Pauli 1930 postuliert hatte, um den Energieerhaltungssatz beim Beta-Zerfall nicht zu verletzen, ging den Experimentatoren »bereits« nach 26 Jahren ins Netz.

Es war unter anderem der britische Physiker Peter Higgs, der 1964 das nach ihm benannte Teilchen erfand. Denn im Standardmodell der Elementarteilchenphysik haben Elektronen, Quarks und andere Teilchen an sich keine Masse. Diese erhalten sie erst durch eine ad hoc eingeführte physikalische Wechselwirkung in einem eigens dafür geschaffenen Feld, dem Higgs-Feld. Dabei gilt: Je stärker ein Teilchen an das Higgs-Feld koppelt, desto mehr Masse gewinnt es. Und so wie etwa dem elektromagnetischen Feld als Quantenteilchen das Photon zugeordnet ist, wird dem Higgs-Feld das Higgs-Boson zugeordnet.

Schon bis hierhin mutet alles reichlich spekulativ an. Oder, wie der Astrophysiker und TV-Moderator Harald Lesch spöttelt: »Das versteht kein Mensch.« Zudem ist die berechnete Masse des Higgs-Boson so groß (über 120 GeV), dass dessen Nachweis anfangs kaum möglich schien. Erst mit Hilfe des rund drei Milliarden Euro teuren LHC ist es Physikern gelungen, in einen solch exotischen Masse- bzw. Energiebereich vorzustoßen.

Aber noch gilt der Nachweis des Higgs-Bosons nicht als gesichert. Der deutsche CERN-Forscher Thomas Naumann vergleicht die gegenwärtige Situation deshalb mit der Expedition des Christoph Kolumbus, der bekanntlich den westlichen Seeweg nach Indien gesucht und dabei ein paar Inseln eines neuen Kontinents entdeckt hatte. »Auch wir haben jetzt die Vorläufer eines völlig neuen physikalischen Kontinents entdeckt.«

Will sagen: Auf irgendein unbekanntes Teilchen sind die CERN-Forscher wohl gestoßen. Ob es allerdings das gesuchte Higgs-Boson ist oder ein Teilchen, das eine völlig neue Theorie erfordert, weiß derzeit niemand. Diese Vorsicht ist verständlich, wenn man bedenkt, wie Physiker den Nachweis des Higgs-Bosons führen: Zwei Protonenstrahlen werden im LHC mit ungeheurer Energie aufeinander geschossen und zur Kollision gebracht. Entsteht dabei wie erwartet ein Higgs-Boson, zerfällt dieses sogleich in andere Partikel, deren Nachweis wiederum als Beleg für die Existenz des gesuchten Teilchens gilt.

Kein Mensch kann also das Higgs-Boson »direkt« messen. Doch das ist nichts Neues. Der Nachweis des Neutrinos erfolgte 1956 auf ähnliche Weise. Ja, nicht einmal das Elektron dürfen wir uns laut Quantenmechanik als winzige bewegte Billardkugel vorstellen. Alles, was wir über die Welt der Elementarteilchen in Erfahrung bringen können, wird letztlich in Gestalt von komplizierten mathematischen Formeln niedergeschrieben, die jeglicher Anschauung entbehren. Trotzdem besteht kein Grund, deswegen an der Realität der Elementarteilchen zu zweifeln oder diese gar auf jene Formeln zu reduzieren.

Denn subatomare Teilchen hinterlassen im Experiment einen messbaren kausalen Abdruck. Beim Higgs-Boson etwa wären das die Spuren der zerfallenden Teilchen nach der Protonenkollision im LHC. Aber auch die Lichtblitze in einem Szintillationszähler oder die Teilchenbahnen in einer Nebelkammer fallen in diese Kategorie. Letztere sind natürlich keine kontinuierlichen Raumzeitbahnen im klassischen Sinn. Sie bestehen vielmehr aus wiederholten, benachbarten Ortsmessungen, die nach den Gesetzen der Quantenmechanik empirisch nur unvollständig bestimmt sind, wie die Dortmunder Philosophin Brigitte Falkenburg sagt: »Deshalb ist der experimentelle Teilchenbegriff nicht identisch mit dem klassischen Teilchenkonzept, sondern erheblich schwächer.«

Hieran anknüpfend werden in der philosophischen Diskussion heute gelegentlich zwei Thesen vertreten. Erstens: Im Experiment sind Elementarteilchen mikroskopische Ursachen lokaler makroskopischer Wirkungen. Und zweitens, daraus folgend: Die Realität der Mikrowelt ist eine »kausale Realität«, die sich in solchen Wirkungen offenbart. Aber sie ist eine Realität im materialistischen Sinn, wenngleich sie nicht in den begrifflichen Rahmen dessen passt, was Ernst Bloch einmal ironisch »Klotzmaterialismus« genannt hat.

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