- Politik
- Ein Jahr danach
New York sucht seinen Frieden
Die unvergleichbare Katastrophe hat bei den Einwohnern tiefe Spuren hinterlassen
New York hält heute den Atem an. Mit gemeinsamen Liedern, mit Gebeten, Kerzenandachten und Gedenkminuten, mit Glockengeläut und Dudelsackmärschen werden Zehntausende in allen fünf Stadtteilen den ersten Jahrestag der Terroranschläge begehen.
Unsere verwundete Stadt ehrt ihre Gefallenen« - die Ankündigung in der größten New Yorker Boulevardzeitung »Daily News« ist nur eine von Tausenden, mit der seit Tagen die Behörden, Glaubensgemeinschaften, Medien und andere Institutionen der Stadt die Bevölkerung zum Gedenken an die Terroranschläge vom 11.September bewegen. Museen eröffnen »9-11«-Ausstellungen, Kirchen, Synagogen und Moscheen halten Gedenkgottesdienste ab, und es wird weder eine Straße noch eine U-Bahn-Station, Kneipe oder sonstige öffentliche Einrichtung geben, in der die Ereignisse vor einem Jahr nicht zum Thema gemacht werden.Das zentrale Ereignis findet frühmorgens um 8.46 Uhr statt: eine stadtweite Gedenkminute. Am »Ground Zero« werden just zu dieser Zeit Angehörige der Opfer des »World Trade Center«-Anschlags über eine Rampe zum Unglücksort hinabschreiten, um Blumen zu hinterlegen. Genau vor einem Jahr war eine Boeing 767, der entführte Flug 11 der »American Airlines«, mit 81 Passagieren, neun Flugbegleitern und zwei Piloten von einem Terroristen-Selbstmordkommando in die obere Hälfte des Nordturms gesteuert worden. Eine Viertelstunde später raste ein zweites Passagierflugzeug in den Südturm des WTC. Kurz darauf stürzten beide Gebäude, die zu den höchsten der Welt gehörten, in sich zusammen. Von den 14000 Menschen im Gebäude konnte sich die Mehrzahl retten. 2819 starben, darunter 343 Feuerwehrleute, die zu Bergungsarbeiten angerückt waren, sowie die 157 Insassen beider Flugzeuge - mehr als die Hälfte konnte bis heute nicht identifiziert werden. Der in seiner Dimension schwerste Anschlag innerhalb der USA mag im Vergleich zu staatlichen Konflikten oder Bürgerkriegen eine eher kleinere Katastrophe sein, doch im Bewusstsein der Stadt war und ist der 11. September eine unvergleichbare Katastrophe, die die New Yorker in jeder Beziehung geprägt hat.
Beginn einer neuen Zeitrechnung
Es ist nicht nur die Tatsache, dass »9-11« zu einer neuen Zeitrechnung im »davor« und »danach« geworden ist. Jeder rekapituliert die Stunden und Minuten am 11.September - Aufenthaltsort, Gesprächspartner, die ersten Telefonate. Und doch mischen sich bereits ein Jahr danach authentische Erinnerungen und Bruchstücke von Erlebtem mit den Assoziationen, die die Geschäftemacher der Erinnerungsindustrie auslösen. Da gibt es die so genannten »desaster post cards« an Souvenirständen, die nicht nur bei Touristen reißenden Absatz finden: Postkarten mit brennenden WTC-Türmen, über denen in rot »Wir werden uns immer erinnern« steht. Oder Kaffeetassen in den Nationalfarben rot-weiß-blau und der Aufschrift »9-11 Wir stehen zusammen«. Oder T-Shirts mit der makaberen Zeile »Ich bin ein Überlebender«.
Nach 9-11 und in Verbindung mit den patriotischen Ausbrüchen im ganzen Land hieß es immer wieder, Rest-Amerika schaue mit Ehrfurcht auf das Durchhaltevermögen der New Yorker Bevölkerung. Der Terroranschlag habe New York endlich den US-amerikanischen Verhältnissen angepasst, so Hobby-Soziologen, der Satz »New York ist nicht Amerika« stimme nicht mehr. Zutreffender dürfte jedoch die Beobachtung sein, dass die Katastrophe in Downtown Manhattan die Verrücktheiten, das Chaos und die Neurosen nur noch deutlicher zum Vorschein gebracht hat.
Gleichzeitig macht sich der Gewohnheitsfaktor bemerkbar. Es dauerte zwar Monate bis zur Einsicht, dass man in Zukunft wegen der scharfen Sicherheitskontrollen eine oder eineinhalb Stunden vor dem Abflug am Flughafen erscheinen musste - und nicht eine halbe oder gar Viertelstunde wie früher; dass bei Großveranstaltungen wie der jährlichen Karibik-Parade Anfang September, an der bis zu zwei Millionen Menschen teilnehmen, die Polizei stichprobenartig deutlich sichtbare Gepäckkontrollen durchführt und sich noch längere Schlangen bilden; dass sich auf der Brooklyn Bridge doppelt so lange Verkehrsstaus ergeben können, wenn die Cops eine oder zwei Fahrspuren »aus Sicherheitsgründen« nicht freigeben; und dass die uniformierten und streng dreinblickenden Angehörigen der »National Guard« am Bahnhof »Grand Central« und anderswo auch weiterhin die Passanten beobachten.
Doch abgesehen von den notwendigerweise noch längeren Wartezeiten hat sich für den normalen New Yorker, der morgens in der überfüllten U-Bahn nach Manhattan fährt und sich am späten Nachmittag wieder nach Brooklyn, Queens, Staten Island oder in die Bronx zurückbringen lässt, wenig geändert. Der liberale Geist des »laissez faire« ist nicht unterzukriegen. Der Taxifahrer mit Turban, weißem Gewand und langem Bart fühlt sich heute keineswegs unsicher, nachdem die New Yorker den Unterschied zwischen Angehörigen der Sikhs und Osama bin Laden gelernt haben. Zeitgeist-Journalisten, die den Überblick über die unterschiedlichsten Lebensstile und Trends von Berufs wegen behalten müssen, beobachten sogar die zunehmende Hinwendung zum Hedonismus. In den Tagen nach dem 11. September war die Rede vom »Terrorsex« umgegangen - vermehrte sexuelle Aktivitäten auf Grund von Anlehnungsbedürfnis, plötzlich auftretendem Kinderwunsch oder einfach dem »Kick« am schnellen sexuellen Erlebnis mit Unbekannten, das eine schockbedingte Nähe vorgaukelte. Das Ergebnis: New Yorker Krankenhäuser berichteten im Sommer 2002, also neun bis zehn Monate »danach«, von einer Zunahme von Geburten in Höhe von 15 bis 25 Prozent. Der Trend, so Beobachtungen heute, besteht in leicht veränderter Form fort: privat organisierte Erotik-Partys und »Safe Sex«-Orgien erleben einen Boom.
Und doch bleibt ein modifizierter »life style« in Trends und Moden nur der Ausdruck eines psychologisch bedingten Fluchtbedürfnisses bei Erwachsenen. Genauer geben Umfragen bei Jugendlichen und Kindern darüber Auskunft, wie sich die Anschläge innerhalb eines Jahres ausgewirkt haben. 93 Prozent der New Yorker Kinder waren einer Studie des städtischen »Bürgerkomitee für Kinder« Zeugen, die Mehrzahl davon am Fernsehgerät. Über zwei Drittel davon gaben an, emotionale Probleme gehabt zu haben. Fast die Hälfte der befragten Eltern berichteten, ihre Kinder hätten weiterhin zu kämpfen: von der Dauersorge, ihre Eltern sicher zu wissen, über Schlafstörungen bis hin zu Ängsten, alleine zuhause zu bleiben.
Unterdessen befinden sich die öffentlichen Zustimmungsraten für Präsident George Bush im Abwärtstrend - im Gegensatz zum verordneten Patriotismus. Die Gründe: der »Krieg gegen den Terror« stößt zunehmend auf Skepsis, ebenso wie die Kriegsvorbereitungen gegen Irak. Eine Meinungserhebung von »New York Times« und CBS ergab zwar, dass 68 Prozent der Bevölkerung Militärschläge gegen Bagdad unterstützen würden. Doch 56 Prozent plädieren zuvor für UNO-Beratungen und die Rückkehr von Waffeninspektoren an den Euphrat. Zwei Drittel der Befragten gaben sogar an, sie hielten die Begründungen der Regierung für einen Krieg für nicht glaubwürdig. Insgesamt beträgt die Zustimmungsrate für Bush solide 63 Prozent und 54 Prozent für seine Außenpolitik, doch verglichen mit 87 bzw. 76 Prozent im vergangenen Herbst dürfte das Weiße Haus die Zahlen heute mit Sorge betrachten.
Beobachter sind sich deshalb sicher, dass die Außenpolitik bei den Kongresswahlen im November bei der Stimmabgabe der Wähler eine überdurchschnittlich große Rolle spielen wird. Der Krieg gegen Irak ist freilich in den Wochen vor den Novemberwahlen ein bewusst gewählter Schwerpunkt. Irak und Terror statt Enron und WorldCom, so ließe sich die Themenwahl der Republikaner auf eine kurze Formel bringen. Dagegen hatten die Demokraten gehofft, mit innenpolitischen Themen den Wahlkampf zu bestimmen. Die Bilanzfälschungsskandale von Enron bis hin zum Zusammenbruch von »WorldCom«, der größten Pleite in der Wirtschaftsgeschichte, sowie die Verwicklungen des Präsidenten und seines Vize in dubiose Geschäfte der Vergangenheit und, nicht zu vergessen, die öffentliche Empörung über die Machenschaften von Politik und Wirtschaft hatten den Demokraten reichlich Wahlkampfmunition geliefert - was das Weiße Haus und die Republikaner geschickt konterten.
Die Restlinke bleibt weit gehend stumm
Die Schwerpunktsetzung auf Außenpolitik und nationale Sicherheit, traditionell ein von den Republikanern besetztes Themenfeld, macht zudem die Aufklärung über innenpolitische Veränderungen und Oppositionspolitik noch schwerer. Seit dem 11. September erfolgten Gesetzesverschärfungen und Maßnahmen, wie sie nur mit der McCarthy-Ära der 50er Jahre verglichen werden können. Hauptopfer und -ziele des Innenministeriums sind Immi-
granten ohne USA-Staatsbürgerschaft. Zwischen 1500 und 2000 Ausländer sind innerhalb der vergangenen zwölf Monate unter dem Deckmantel amtlicher Verschwiegenheit als »verdächtige Terroristen« und ohne weitere Angabe von Gründen inhaftiert worden. Kein einziger davon wurde einer Verwicklung in die Anschläge angeklagt. 8000 ausländische Männer arabischer Herkunft wurden darüber hinaus zu »Interviews« bei der Polizei »vorgeladen«.
Trotzdem bleibt die US-amerikanische Restlinke weit gehend stumm. Vom Schock über den 11. September und den Reaktionen der Bush-Regierung schwer getroffen, hat sie sich auch ein Jahr danach nicht erholt. Erschwerend hinzu kommen Ex-Linke und Liberale, die sich zu Kriegsbefürwortern gewandelt haben und sich, obwohl sie der Bush-Regierung nicht zujubeln, erklärtermaßen aufs Abwarten und Stillhalten konzentrieren. Es gibt darüber hinaus vereinzelte Ex-Linke, die Kriegsgegnern sogar Verrat an westlichen Idealen und wegen ihrer Ablehnung der Bush-Regierung Komplizenschaft mit den »Islamofaschisten« vorwerfen. Aus der Sicht der prinzipiellen Kriegsgegner ist die »Debatte« innerhalb der Washingtoner Regierung jedenfalls beendet, ohne dass sich dabei Ansprechpartner auf Seiten der »Moderaten« gefunden hätten. Die USA, so der linke Autor George Monbiot, »werden gegen Irak in den Krieg ziehen, weil sie ein Land brauchen, gegen das Krieg geführt werden kann«. Dahinter stecke nichts anderes als »die Logik des Imperiums«. Die USA würden sich so gesehen »ganz normal« verhalten, schließt Monbiot, eben wie jede andere Imperialmacht in der Geschichte - aber nur sola...
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