Visionen vom Krieg?

Notizen vom 44. deutschen Historikertag in Halle

  • Karlen Vesper
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Krieg und Frieden und gesellschaftlicher Fortschritt in der Geschichte« war das Motto des VIII. und letzten Kongresses des Historikerverbandes der DDR, der Anfang Februar 1989 in der Hauptstadt eines bereits der Agonie zusteuernden Landes stattfand. Zweifellos ein wichtiges Thema, dem sich zu allen Zeiten die Vertreter der Zunft der Geschichtsschreiber ernsthaft anzunehmen haben. In eben jenem Jahr war es nicht gerade das dringlichste, drängender waren andere Probleme, vor allem jene, die Wohl und Wehe der realsozialistischen Gesellschaften akut tangierten, ganz zu schweigen von den Alltagssorgen des Volkes. Heute hingegen hat jenes Leitmotiv besondere Aktualität erlangt. Und immerhin: Punktuell wurde die gegenwärtige Kriegsgefahr von den 3000 Geschichtswissenschaftlern und -lehrern, die sich diese Woche in Halle trafen, artikuliert. Das Motto des von Bundespräsident Johannes Rau eröffneten 44. Historikertages, zu dem der Verband der Historiker und Historikerinnen sowie der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands an die altehrwürdige, 500-jährige Martin-Luther-Universität geladen hatten, hieß schlicht und einfach, geschichtsphilosophisch aber durchaus tiefgründig: »Traditionen und Visionen«. Nein, nicht Schreckensvisionen sollten im Mittelpunkt der Diskurse stehen, hatte der Verbandsvorsitzende Manfred Hildermeier vorab der Presse erläutert. Bereits ein halbes Jahr vor den massenmörderischen Anschlägen auf New York und Washington habe man diese inhaltliche Klammer für die fast 60 Veranstaltungen in diversen Sektionen gewählt. Da gerieten also beispielsweise ins Blickfeld die visionäre Politik des Princeps Augustus und die poetischen Visionen seines Dichters Vergil (»Aeneis«), die französischen Religionskriege und die Reformation in England, österreichische und preußische Salzbeamte als »Visionäre des Fortschritts«, die Europa-Ideen von einem »ewigen Bündnis der zivilisierten Völker« im 19. Jahrhundert sowie die Vorstellungen von Markt und Klasse in der deutschen Sozialdemokratie, die Hoffnungen der nach 1945 remigrierten deutschen Juden, »das unterbrochene Leben wieder zusammenzubinden«, aber auch Chinas und Syriens Aufbrüche in die »Moderne«. Von der russischen Revolution 1917, von den alte Traditionen zertrümmernden und neue begründenden Bolschewiki war ebenso wenig zu vernehmen wie etwa von den radikalen Ideen eines Gustav Landauer und Erich Mühsam oder der Tragödie eines Ungarn namens Béla Kun. Die Geschichte der DDR schien den Veranstaltern wohl ausreichend behandelt, wenn diese im Diskussionskreis über »Skandal und Öffentlichkeit in der Diktatur« abgehandelt werde. Susanne Schattenberg (Potsdam) sprach über die Aufdeckung der Verbrechen Stalins und Thomas Lindenberger (Potsdam) über die »Skandalisierung als Herrschaftsinstrument in der frühen DDR am Beispiel der Volkspolizei«. Auch wenn der Moderator Martin Sabrow (Potsdam) bemüht war, kein Gleichheitszeichen zwischen NS- und SED-Regime aufkommen zu lassen, so nährten die hier ebenfalls auf den Plan gesetzten Referate zu »Korruptionsaffären im Nationalsozialismus« und über den antinazistischen Euthanasieprotest des Bischofs Clemens August Graf von Galen 1944 den Verdacht, dass die Totalitarismusdoktrin die wissenschaftlichen Geister weiterhin umnebelt. Die Verständigung über die »differenzierten Möglichkeiten, die es auch in der staatssozialistischen Diktatur gab, auf Missstände aufmerksam zu machen« (Lindenberger), fiel letztlich recht dürftig aus. Ein Studentenpärchen neben mir bedachte die müde dahinplätschernde Aussprache mit dem Urteil: »Das wird ja immer witziger, grotesk«, um hernach allein weiter über Havemann, Biermann und Genossen zu streiten. Einzelnen Ereignissen und Personen, die mit dem Werden und Vergehen des ostdeutschen Staates verknüpft waren, widmeten sich noch zwei/drei Nachwuchswissenschaftler an diesen drei Tagen innerhalb der Sektion »Junge Historiker stellen sich vor«. Das wars dann aber auch. So blieb der Eindruck: DDR-Geschichte scheint bestallten und gestandenen Geschichtswissenschaftlern nicht mehr der Mühe konzentrierter und akribischer Forschungsarbeit wert. Interessante Höhepunkte gab es durchaus einige während des 44. Historikertages, etwa die Runde zu Wissenschaft unterm Hakenkreuz oder zum revitalisierten, aber nicht unumstrittenen Begriff Zivilgesellschaft als ein »Konzept zwischen Universalitätsanspruch und sozialer Exklusion« bzw. als »Alternative zur Revolution«. Aktuelle Bezüge stellten sich her bei der Erörterung von Migration, Flucht, Vertreibung und Asyl in diversen Zeitepochen. Spannend aber war vor allem die Podiumsdiskussion am 11. September zum »11. September«. Hildermeier selbst übernahm deren Regie, wegen Unpässlichkeit des damit beauftragten Journalisten. Der Verbandsvorsitzende, Professor für osteuropäische Geschichte in Göttingen, bewältigte die ihn unvorbereitet ereilte Rolle mit Bravour. Dass er nicht aus eigenem Antrieb und gleich zu Beginn der Veranstaltung das Publikum bat, mit einer Schweigeminute der Toten von New York und Washington zu gedenken, diese erst ein emotional bewegter Zwischenrufer einforderte, wird man ihm verzeihen müssen. Kein Fürsprecher fand sich im Auditorium für ähnliches Gedenken an die im Gefolge des »Krieges gegen den Terror« ums Leben Gekommenen, nach bisherigen Schätzungen acht- bis zehntausend. An sie erinnerten die Beiträge der Wissenschaftler, eindringliche Mahnungen, dass sich die Zahl unschuldiger Opfer der modernen Kreuzzüge nicht weiter erhöhe. Kai Hafet vom - ausgerechnet jetzt (welch wissenschaftspolitische Dummheit!) dichtgemachten - Hamburger Institut für Orientalistik warnte vor voreiligen und willkürlichen Entschlüssen und verwies auf das hohe Risiko, einen Krieg gegen den Irak ohne eindeutige Beweise für dortige atomare oder biotechnologische Aufrüstung anzuzetteln. Alte und neu aufgetauchte Osama-bin-Laden-Videos kommentierte er mit den Worten: »Als Historiker glaube ich Quellen erst, wenn ich sie auf ihre Authentizität überprüft habe.« Detlef Junker, Professor für amerikanische Geschichte in Heidelberg, skizzierte die strategischen Vorstellungen der Falken in Washington: unipolare Welt um den Hegemon USA, Befreiung von fesselnden internationalen Verträgen, keinerlei Rücksichtsnahme mehr auf die Alliierten, Ersetzung der Abschreckungsmethoden des Kalten Krieges durch entschlossene Vernichtungskriege. In Pentagon und State Department, so der Amerikanist, gäbe es aber nicht wenige Kräfte, die mit dieser Strategie nicht einverstanden seien. Die nächsten zwei/drei Jahre würden erweisen, welche Fraktion sich in Washington D.C. durchsetze. Jürgen Paul von der gastgebenden Universität wiederum verwies auf die Gefahren, die sich in den neuen Aufmarschgebieten der US-Militärs, den ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan, zusammenbrauen. Den dortigen Regierungen, die sich ihre Bündnistreue von den USA reichlich entgelten lassen, könne eine unkalkulierbare fundamentalistische Opposition erwachsen. Die Sprachlosigkeit der deutschen Historiker nach dem 11. September 2001 scheint überwunden. Hier jedenfalls kamen Analytiker und Kritiker zu Wort. Und die Kritik schonte auch nicht renommierte Zunftkollegen. So wurde der Bielefelder Professor Hans-Ulrich Wehler wegen seiner Äußerungen in einem Zeitungs-Interview angezählt: »Die Bundesrepublik hat kein Ausländerproblem, sie hat ein Türkenproblem. Diese muslimische Diaspora ist im Prinzip nicht integrierbar.« (taz v. 10.9.) Dies empörte die Kollegen in Halle. Aufhorchen ließen auch, allerdings auf andere Weise, die Ausführungen von Hans-Ulrich Klose, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages. Die bereits seit einigen Tagen zu registrierende Dissonanz zwischen dem SPD-Politiker und seinem Kanzler auch hier: Das Irak-Problem werde in Deutschland zu sehr aus innenpolitischem Blickwinkel statt mit außenpolitischer Weitsicht erörtert. Saddam Hussein werde nicht UN-Waffeninspekteure ins Land lassen, wenn man ihn nur brav darum bitte, witzelte Klose. Eine Droh- und Druckkulisse sei notwendig, sprachs und flüchtete sich hernach in einen Vergleich der konträren Mentalitäten und Wertevorstellungen der US-Amerikaner und Europäer - offenbar wollte er den Wahlkampf seiner Partei dann doch nicht allzu sehr belasten. Bemerkenswert während dieser Podiumsdiskussion war auch die Diskrepanz in der Beurteilung der Ursachen von Fundamentalismus und Terror. Während die Wissenschaftler auf soziale Wurzeln verwiesen, bestritt Klose deren Ausschlag gebende Relevanz mit dem verkürzten Hinweis, die »Osamas« kämen aus gut situierten Kreisen. Wäre ein Historikerverband nicht ein solch schwer bewegliches Gebilde und würden Klios heutige Jünger nicht so starr dem (im Prinzip löblichen) Grundsatz anhängen, jedes Urteil benötige sattsamen Forschungsvorlauf, hätte man sicher mehr zur aktuellen Krieg-oder-Frieden-Problematik erfahren. Aber es ist nun einmal, wie es ist. Übrigens: Von den einstigen 1600 Teilnehmern am VIII. Historikerkongress der DDR sah...

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