Schule - früher oder später
Berlin hat die jüngsten Erstklässler - Rückstellungsquote bei 9,5 Prozent
Flora wird im Oktober fünf Jahre alt, im August 2013 müsste sie in die erste Klasse kommen. Doch ihre Eltern wollen einen Rückstellungsantrag stellen, damit das Mädchen noch ein Jahr in der Kita bleibt. »Mit fünf Jahren in die Schule zu kommen, ist einfach zu früh«, sagt die Mutter Doris Fuss. »Unserer Meinung nach geht bei der Früheinschulung ein ganzes Jahr Kindheit verloren.«
Alle Kinder, die im laufenden Kalenderjahr sechs Jahre alt werden, ob im Januar oder Dezember, sind seit dem Schuljahr 2005/06 schulpflichtig. Das Schuleintrittsalter konnte von 6,7 auf 6,2 Jahre gesenkt werden. Berlin hat damit die jüngsten Erstklässler der Bundesrepublik. Doch manche Eltern, wie die Familie Fuss, stellen Anträge auf Zurückstellung.
Beate Stoffers, Sprecherin der Senatsverwaltung für Bildung, kann jedoch keinen signifikanten Anstieg der Rückstellungszahlen verzeichnen. Zwischen 2004 und 2010 waren Rückstellungen nur eingeschränkt möglich. »Die Zahlen steigen derzeit, weil sich die Rückstellungsmöglichkeit erst wieder herumsprechen muss«, sagt sie. Die Rückstellungsquoten lägen zur Zeit bei 9,5 Prozent, vor 15 bis 20 Jahren pendelten sie zwischen zehn und knapp 14 Prozent.
Eine Neuerung, die den jungen Schülern erleichtern soll, sich im Schulalltag zurecht zu finden, ist die flexible Schulanfangsphase. Dabei bilden die ersten zwei Jahre eine pädagogische Einheit. Drei Jahre kann man in dieser Phase bleiben, je nach individuellem Lernfortschritt. Fünf Prozent kämen nach einem Jahr in die dritte Klasse, zwölf Prozent jedoch erst nach drei Jahren, sagt Dr. Hans Merkens, Universitätsprofessor für Empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Dabei bestünden keine Unterschiede hinsichtlich des sozialen Umfelds der Kinder. Auch in einkommensstarken Milieus gebe es Eltern, die ihr Kind länger in der Anfangsphase lassen.
Merkens sieht den Kern des Problems in der mangelnden Personalweiterbildung. Heute gebe es neue Anforderungen, z. B. die immer stärker benötigte Sprachförderung. Viele Kitaerzieherinnen seien überfordert. Auch Schulen hätten im Bereich der Personalentwicklung Probleme. »Aber Schulen sind auf die Anforderungen trotzdem besser vorbereitet als Kindergärten«, so Merkens.
Ergebnisse zu den Auswirkungen der Früheinschulung könnten bereits vorliegen, da der erste Jahrgang letztes Jahr an weiterführende Schulen gewechselt ist. Jedoch gab und gibt es keine Evaluierung der Einschulungsreform.
Berlin ist das einzige Land, das an der Früheinschulung festhält. Bayern und Nordrhein-Westfalen, die ähnliche Reformen planten, haben das Vorhaben bereits verworfen. In Finnland, dem weltweiten PISA-Spitzenreiter, werden Kinder nach dem vollendeten siebten Lebensjahr eingeschult. Mit der Früheinschulung hängt die Bildungsqualität also nicht unbedingt zusammen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.