»Ich war für meine Gäste verantwortlich...«

Walther Tröger, Bürgermeister des Olympischen Dorfes von München, über die Geiselnahme vor 40 Jahren

  • OLAF NEUMANN
  • Lesedauer: 7 Min.
Olympische Spiele München 1972. Heitere Flower-Power-Stimmung im Olympischen Dorf. Bis das palästinensische Kommando »Schwarzer September« die israelische Mannschaft überfällt und elf Geiseln nimmt. 17 Menschen finden vom 5. auf den 6. September 1972 den Tod. Bei den Olympischen Spielen in London gab es diese Woche eine Gedenkfeier für die Opfer. OLAF NEUMANN sprach mit dem ehemaligen Bürgermeister des Olympischen Dorfes von München, WALTHER TRÖGER.

Herr Tröger, wie fanden Sie das unlängst ausgestrahlte neue ARD-Doku-Drama zu den Ereignissen in München 1972, »Vom Traum zum Terror«?
Dieser Film ist für mich eine gelungene Verbindung zwischen Fiktion und Tatbeständen. Vieles war für mich neu, einiges habe ich anders in Erinnerung.

Wie stand es damals um die Sicherheitsvorkehrungen von Stadt, Land, Bundesregierung und IOC?
Das IOC hat sich in diese Dinge nicht so eingemischt, die hat man uns überlassen. Die Entscheidungen der Sicherheitsgruppe wurden vor Ort getroffen. Diese bestand aus Hans-Dietrich Genscher als Vertreter des Bundes, Bruno Merk als Vertreter des Landes Bayern, Manfred Schreiber als Vertreter der Stadt München und mir als der Berater aus dem Olympischen Dorf. Heute gibt es Kommissionen des IOC, bei denen immer auch ein Sicherheitsbeauftragter dabei ist.

Aus heutiger Sicht wirken die damaligen Sicherheitsvorkehrungen etwas naiv.
Das Wort »naiv« würde ich nicht gebrauchen, denn das würde ja heißen, dass man es besser hätte wissen können. Das war nicht der Fall. Die Sicherheitsvorkehrungen waren den Zeitumständen angemessen. Bis dahin war ähnliches in Deutschland kaum passiert. Die GSG 9 gab es noch nicht.

Wir haben im Organisationskomitee in Abstimmung mit dem IOC ausführlich über »Sicherheit« gesprochen. Der Münchener Polizeipräsident Schreiber hat sich durchgesetzt: abschrecken durch Präsenz, nicht durch Gewalt und Stärke. Selbst bewaffnete Polizisten wären im Olympischen Dorf niedergerollt worden von der kriminellen Energie der Terroristen.

Gegen eine Dauerpräsenz von bewaffneten Sicherheitskräften entschied man sich also bewusst?
Das hätte die Spiele zerstört, weil wir dann eine Wagenburg im Olympischen Dorf gehabt hätten, aus der nach allen Seiten Gewehre lugen. Das wollten und konnten wir nicht. Nach monatelangen Diskussionen war Konsens: Es müssen friedliche Spiele sein.

Wie konnten die palästinensischen Terroristen unbemerkt das Quartier der israelischen Sportler ausspionieren und sogar schwere Waffen ins »Dorf« schaffen?
Wie wir heute wissen, kamen sie durch den Zaun mit Waffen. Und ich erinnere mich, dass mir ihr Anführer Issa sagte, er sei schon vorher im Olympischen Dorf gewesen. Er soll sogar ein paar Tage in der Mensa gearbeitet haben.

War Ihnen von Anfang an klar, dass es sich um ein Selbstmordkommando handelte?
Ja. Issa sagte mir, er und seine Kameraden befänden sich im Krieg. Aber er sagte auch: »Wir haben nichts gegen euch, wir haben nichts gegen Olympia und nichts gegen die Israelis. Ihr bietet uns ein Schaufenster für die ganze Welt. Und unser Auftrag ist, in diesem Schaufenster anhand dieser Geiselnahme darzustellen, welche Probleme es bei uns in Palästina gibt. Das wollen wir der Welt deutlich machen, damit sich vielleicht etwas ändert«.

Warum wollte er ausgerechnet mit Ihnen verhandeln?
Ich habe ihn nicht gefragt. Er kannte offenbar die Organisationsstruktur des Olympischen Dorfes. Mich erreichte der Anruf, dass er mit dessen Bürgermeister über ein Ultimatum verhandeln wolle.

Ist man in einer solchen Situation überhaupt in der Lage, ruhig, besonnen zu verhandeln?
Ich war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Ich habe einfach funktioniert. Angst hatte ich nicht. Ich wollte meine Gäste im Olympischen Dorf retten. Wollte wissen, warum die Terroristen das tun und was sie vorhaben.

Die erste Hälfte der Verhandlungen habe ich mich um Deeskalation bemüht. In der zweiten Hälfte kamen auf unserer Seite Stimmen über einen Gewalteinsatz auf. Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, damit wir uns vorbereiten könnten. Ich habe mich selbst als Geisel angeboten, aber Issa sagte, das helfe ihnen gar nichts. Mir wurde klar: Es gibt aus Sicht der Terroristen keine andere Lösung als jene, die sie wollen.

Wie konnten Sie einen persönlichen »Draht« zu einem fanatisch Verblendeten herstellen?
Issa wirkte auf mich gar nicht so verblendet. Er sagte, er hätte einen Auftrag zu erfüllen. Dafür sei er ausgebildet worden. Nein, man hat mit Issa gut reden können,obwohl er die ganze Zeit eine Handgranate in der Hand hatte und von mindestens zwei seiner Kameraden mit Maschinenpistolen geschützt war. Wir haben offen darüber gesprochen, warum er so gut Deutsch kann und darüber, warum sie dies machen und ob wir nicht andere Lösungen finden können. Und zwar ohne Vorbehalte. Nur hat er gesagt: »Nicht mit mir!« Im Nachhinein kann ich seinen militärischen Gehorsam nachvollziehen, denn inzwischen habe ich viel über den Nahost-Konflikt erfahren. Ich weiß, wie strikt und massiv die Feindschaft zwischen Israelis und einigen Palästinensern ist.

Warum haben Sie sich als Geisel angeboten?
Weil ich für meine Gäste verantwortlich war. Darüber habe ich gar nicht lange nachgedacht. Ich weiß nicht, ob ich es gemacht hätte, wenn ich Bedenkzeit gehabt und darüber mit meiner Familie gesprochen hätte. Nach mir hatten sich auch Genscher und Hans-Jochen Vogel, damals Oberbürgermeister von München, als Geiseln angeboten. Aber Issa war nicht interessiert.

Haben diese Ereignisse damals Ihr Leben verändert?
Ich habe kein Trauma. Geblieben sind aber enge Beziehungen zu einigen israelischen Sportlern, Angehörigen der Opfer und zum israelischen Olympischen Komitee. Die Israelis richten bei allen Olympischen Spielen vor Ort eine kleine Feier aus, zu der ich immer eingeladen bin.

Hätte man die israelischen Geiseln retten können?
Es hätte vielleicht mit Experten aus Israel Möglichkeiten gegeben. Aber wer will das sagen. Das sind Mutmaßungen. Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass man theoretisch viele Dinge hätte besser machen können, aber die Zeitumstände waren halt anders. Im Olympischen Dorf und auf den Wegen zum Flughafen Fürstenfeldbruck hätte man immer damit rechnen müssen, dass das Drama blutig ausgeht, auch für die Geiseln. Neu ist für mich, dass die verbliebenen israelischen Sportler angeboten hatten, die Befreiung ihrer Kameraden selbst durchführen zu wollen. Aber das war wohl ein bisschen blauäugig. Israel hat das Angebot ja auch nicht angenommen.

Wie haben Sie an dem Tag Hans-Dietrich Genscher erlebt?
Genscher war cool. Er ist drei oder vier Mal mit mir zusammen bei den Geiselnehmern gewesen. Denn letztlich lag die Sicherheitshoheit bei der Bundesregierung. Zwischen Genscher, Willy Brandt und Golda Meir gab es ständig Kontakt.

Nach dem tödlichen Ausgang hat Genscher seinen Rücktritt angeboten, aber sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundespräsident haben dies abgelehnt.

Wie hat sich das Team aus der DDR damals verhalten?
DDR-Sportchef Manfred Ewald hat mich angerufen und seine Bereitschaft zur Hilfe angeboten, aber nur im Rahmen einer Vereinbarung zwischen ihm und mir. Das habe ich an Schreiber weitergegeben, und dieser hat trotzdem Scharfschützen in die Zimmer der DDR-Mannschaft geschickt. Das nahm Ewald uns sehr übel. Die DDR hatte einen strategischen Vorteil, denn ihr Haus lag dem der Israelis direkt gegenüber. Drei DDR-Journalisten haben dort gesessen, alles minutiös dokumentiert und der Stasi übergeben. Viele Sportler haben selber fotografiert, aber die Filme sind alle verschwunden.

Hat Israel der Bundesrepublik bei der Aufarbeitung der Ereignisse Vorwürfe gemacht?
Eine Zeit lang ja, aber nicht von olympischer Seite. Die israelische Mannschaftsführung hat sich noch von mir verabschiedet, als sie am nächsten Vormittag, kurz vor der Trauerfeier, abreiste. Auf der Ebene der Politik hat es schon Probleme gegeben. Vor allem haben die Angehörigen der Opfer der bayerischen Landesregierung übel genommen, dass sie Informationen zurückhielt. Sie wollten genau wissen, was passiert war und warum die Sicherheitsvorkehrungen versagt hatten. Die deutsche Seite hatte da sehr gemauert.

Die Olympischen Sommerspiele von München 1972 sind seither mit einem Makel belegt ...
Das IOC hatte damals die Grundsatzentscheidung zu treffen, ob die Spiele nach dem Anschlag weitergehen. Ich fand es richtig, dass man sie fortsetzte. Auch die Israelis beschworen mich zum Abschied, ich solle dafür sorgen, dass es weitergeht; der größte Fehler wäre es, jetzt nachzugeben, der Bedrohung zu weichen. Und Zeitgenossen - seien es Aktive oder Gepäckträger - sagen mir immer wieder: »Die besten Spiele, die wir jemals erlebt haben, waren München 72. Aber …«

Wie haben sich die arabischen Länder verhalten?
Vertreter der Arabischen Liga aus Ägypten waren an den Verhandlungen beteiligt. Aber ich habe keine Ahnung, was da auf Arabisch besprochen wurde. Es ging wohl auch um den Vorschlag der Terroristen, nach Ägypten ausgeflogen zu werden.

Wie kann Ihrer Meinung nach der immer noch schwelende Palästina-Konflikt gelöst werden?
Die »Road-Map« ist der richtige Weg: zwei Staaten, die unter ganz klaren internationalen Voraussetzungen friedlich miteinander auskommen müssen. Ob es jemals soweit kommen wird? Fragen Sie mich etwas Leichteres.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: