Futterställe mit Futter

Dresdens internationaler Überraschungsstart: Der Kunstsommer der Ostrale '012

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.

Welch übersteigerte Bedeutung kommt doch offiziell und im öffentlichen Bewusstsein den aller fünf Jahre in Kassel stattfindenden Documenta-Schauen zu! Wer nicht dort war, kann nicht mitreden im Kunstdiskurs, wird suggeriert. Ein Kurator von göttergleichem Status bestimmt die jeweils gültige Kunstauffassung. Diese bleibt mitunter recht fragwürdig. Antwortengeben ist mittlerweile unmodern geworden. In der Regel ist das Ereignis alles. Das Ereignete ist bald vergessen.

Wer andere Ansätze anzubieten hat, tut das tunlichst anderswo. Warum nicht Dresden? Die einzigartige Stadtlandschaft macht immer neue Überraschungen möglich. Auf der Halbinsel des Ostrageheges hatte der Architekt des Erlweinspeichers Hans Erlwein seit 1906 einen modernen Vieh- und Schlachthof angelegt. Nach einer wechselvollen Geschichte spielt sich neuerdings dort allerhand ab, was mit Fleischproduktion nichts mehr zu tun hat. Der vom Elbufer durch den Brückenbau vertriebene Vergnügungspark Vogelwiese ist hier genauso heimisch geworden wie eine berühmte Leistungssportschule sowie noble Hallen für Messen aller Art. Übriggeblieben sind die vom Zahn der Zeit angenagten Nebengebäude wie Futterställe mit Heuböden und ein Kühlhaus.

Der Charme der Vergänglichkeit befördert bekanntlich den Improvisationsgeist. Unter dem Gebälk alter Dachkonstruktionen und auf urigem Stallgemäuer künstlerische Fantasie aufblühen zu lassen, das ist für die Installationskunst eine echte Chance. Im perfekten Outfit moderner Museen eher steril wirkend, kann sie hier durchatmen. Grassierender Beliebigkeit entgegen Fotos und Zeichnungen, Ölbilder und Plastiken mit verfremdeten oder beweglichen Objekten in Beziehung zu setzen - welch Chance! Reales und Erfundenes als Gegenpole, in ständig veränderbaren Konstellationen!

Dieses Jahr hat unter der Leitung von Andrea Hilger das Zweierteam Martin Müller und Benjamin Fleig die auf 15 000 Quadratmeter ausgebreitete Ausstellung kuratiert. 245 Teilnehmer aus 33 Ländern sind ihrem Ruf gefolgt, und haben vor Ort ihre Schöpfungen ins Ganze integriert.

Hier wird eine im Prinzip auf den mitteleuropäischen Raum beschränkte Internationalität gepflegt. Deutschland und Österreich wetteifern mit Belgien und den Niederlanden sowie Finnland und Italien um die besten Leistungen. Es ist immer gewagt, explizit ein Thema vorzugeben. »Homegrown« heißt es diesmal, und das wird mal als »Eigengewächs« und mal als »hausgemacht« verstanden. Als Aufruf, künstlerisch subjektiv die gesellschaftlich objektiv drängenden Probleme anzugehen, war das Wort recht verstanden.

Wir steigen treppauf, treppab, öffnen Tore und Türen, und nehmen auf Schritt und Tritt mit Kunstspuren Lebensnahes wahr. Nachbarschaften steigern Wirkungen, wenn Bianca Patricia in vier Fotos die von Spielzeugmassen zugemüllten »Kids 2010« ins Bild setzt und daneben Herbert Egger den Kasten der »Vermessenen Welt« in langen Zotteln aufdröselt oder Kaspar Hamacher in »Ausgebrannt I/II/III« unsere hohlen Zähne zu gigantischen hölzernen Monumenten hochstilisiert. Oder Frank Eckhardt uns mit »Die Kammer des Künstlers« im Würfelobjekt ein kurioses Gehäuse mit Videoperformance vorführt. Und damit überleitet zur flachen Horizontale des Fußbodens, auf dem der Plakatmacher Uwe Loesch je 15 große Glastafeln auf Siebdrucken in Schwarz (»Freizeichen«) und in Rot (»Die Deutschen sterben nicht aus«) inszeniert. Oder wenn Bert Löschner siebenmeterhoch Polypropylenstühle zum vertikalen »Rückgrat« stapelt. Werden da schon unsere Lachmuskeln angetörnt, dann vollends bei der achtmeterwandbreit geräkelten nackten Dickmadam »Angeline 01« in zwölf gequetschten Fotopositionen. Da können wir Karin van der Molens in Polyester geformte Gummireifen plus Baumstämme »Waldnah« nur noch als Sarkasmus begreifen.

Eine ironisch-satirische Weltsicht zieht sich grandios wie ein roter Faden durch die Räume. »Little shop of horrors«: Bitterböse Kriegsgerätornamentik ziert Till Ansgar Baumhauers Kollektion muslimischer Gebetsteppiche. »Einsichten«: Auf unverputzter Wand breitet das Team »mettanest« zwölf ironisch verschobene Heiligenbilder aus. »Relationships«: Arnold Reinisch bringt es auf 24 ulkige Fotovarianten von Staubsauger-Benutzern. »Family trees«: Emilie, die mit Extra-Areal geehrte Gattin des US-Politikers Brzezinski, macht dann jedoch ernst, indem sie einen Wald ausgehöhlter und mit Ganzkörperfotos versehener Baumstämme zeigt.

Was in den Futterställen und Heuböden fasziniert, ist der Wechsel von Gegenständen und Zeichen, von Raumgreifendem und Flächigem, von Farbe über Tiefschwarz zu Blassweiß, von Stofflichem zu Modelliertem, von Fotografiertem zu Gemaltem - alles geprägt von anregenden Bildideen. Außerdem sind hier mit den einzelnen IAM-Projekten (das heißt »International Art Moves«) der Kunsthochschulen Beirut, Granada, Hongkong, Lima, Wrocław und Zagreb brisante thematische Ballungen zu erleben.

Solche Steigerung fehlt leider sowohl in Haus 11 wie im Kühlhaus. Was fällt da auf? Viermal »Imaginary lover« in von Brele Scholz bizarr geschnitztem Holz. »L'origine della trama« als wanddurchbrechendes Eisengewirr von Davide Dormino. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich bei dem vom Keller zum Erdgeschoss durchwachsenden Gewirrbaum von Daniele del Grande und Jan Heinke.

Mehr bleibt da nicht im Gedächtnis haften. Auch Zufall will gesteuert sein. Der abseitig gelegene Eselstall wirkt vollends wie eine Resterampe. Hier gibt es Einheimisch-Sächsisches, das sich draußen mühelos in höherer Qualität finden ließe. Zu begrüßen wäre eine bessere Platzierung hervorragender Arbeiten. Die atemberaubende Installation von Milena Jovicevic und Dusica Ivetic aus Montenegro, die mexikanische Totenkopfanbetung per Videoanimation ironisiert, wirkt im Kühlhauskeller wie abgestellt. Muss Thomas Ottos maskenartig schartiger Metallschädel im Unkraut des Freigeländes verkümmern?

Auf welches Publikum hofft man? Jung oder Alt? Umwirbt man es? Die Laufwütigen wie die Autogebundenen werden ihren Weg schon finden, sagen sich wohl die Veranstalter. Wer etwas über die Künstler wissen will, muss geduldig auf den Katalog warten. Und wird dann zumindest mit einer gelungenen Bildfolge belohnt.

Ostrale '012 Internationale Ausstellung zeitgenössischer Künste. Dresden, Messering 8. Bis 16. September, Di, Mi, Do, So 11-20, Fr, Sa 11-22 Uhr

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