Warum nicht Roosevelt?
Wie die Marxistin Sahra Wagenknecht auf den Ordoliberalen Ludwig Erhard hereinfällt
Sahra Wagenknecht hat Ludwig Erhard gelesen. Und sie macht kein Geheimnis daraus. Seit geraumer Zeit lässt sie kaum einen Anlass aus, den christdemokratischen Wirtschaftsminister und Bundeskanzler zu zitieren. Diese Strategie hat sich für sie gelohnt. »Der Spiegel« nennt sie »erzliberal«, in Talkshows ist sie Dauergast, und Gregor Gysi kann sich vorstellen, dass sie seine Nachfolgerin wird. Ironisch kommentierte er, Wagenknecht habe ja »nicht nur Karl Marx, sondern auch Ludwig Erhard gelesen - und verstanden.«
Bleibt die Frage: Was hat Wagenknecht da eigentlich gelesen - und verstanden? Sie bezieht sich auf Erhard wie auf eine Autorität, was bei den meisten Zeitgenossen den durchaus gewollten Eindruck hinterlassen dürfte, dass dieser Ordoliberale ein hochkomplexes theoretisches Werk hinterlassen habe. Das ist falsch. Erhards Buch »Wohlstand für alle« ist vielmehr eine ausufernde Wahlkampfschrift, die pünktlich zur Wahl 1957 erschien. Das Werk stammt auch gar nicht von ihm allein, sondern ist »unter der Mitarbeit« des Handelsblattjournalisten Wolfram Langer entstanden. Der theoretische Gehalt ist gering, denn wie für eine Wahlkampfschrift zu erwarten, besteht sie in großen Teilen aus Selbstlob - und aus Kritik am politischen Gegner SPD.
Um die zentralen Botschaften kurz zusammenzufassen: Von Umverteilung hält Erhard gar nichts. Der »Wohlstand für alle« soll stattdessen durch rasches Wachstum gewährleistet werden. Dieses Wachstum entsteht für ihn gleichsam naturwüchsig, sobald die Freiheit der Unternehmer garantiert ist. Zu dieser Freiheit gehört, Kartelle und Monopole entschieden zu bekämpfen, so dass sich jede Firma im Wettbewerb bewähren kann - und muss. Denn Freiheit ist auch Verantwortung. Wer sich am Markt nicht behaupten kann, wird mit dem Untergang bestraft.
Gegen manche dieser Thesen ist nichts zu sagen. Wer will schon ein Monopol? Auch hat Erhard richtig erkannt, dass die Löhne entsprechend der Produktivität steigen müssen, wenn es nicht zu einer Nachfragelücke kommen soll. Damit war er weiter als die heutige CDU oder SPD, die beide begeistert Lohndumping betreiben und ernsthaft glauben, schlecht bezahlte Leiharbeit sei ein ökonomischer Fortschritt. Trotzdem tut man Erhard nicht unrecht, wenn man seine Theorie als äußerst beschränkt bezeichnet. Denn sie befasst sich nur mit den Märkten der Realwirtschaft. Das Wort »Bank« kommt in dem ganzen Buch - und es hat immerhin 429 Seiten - kein einziges Mal vor. Auch Geld spielt keine Rolle, genauso wenig wie die Kreditvergabe. Von Finanzmärkten ist sowieso nicht die Rede. Auch nicht von Spekulation, Immobilienblasen oder Crashs.
Es ist daher eher absonderlich, dass Sahra Wagenknecht ausgerechnet Ludwig Erhard zitiert, um Wege aus der Eurokrise aufzuzeigen und die Banken als »Zockerbuden« zu attackieren. Denn, wie gesagt, derartige Themen kommen bei dem Ordoliberalen gar nicht vor. Offensichtlich ist nur der taktische Gewinn. Es macht natürlich Spaß, als Linke der CDU vorzuhalten, dass sie nicht jenen »Wohlstand für alle« generiert, den einer ihrer Gründungsväter versprochen hat. Allerdings ist diese Strategie nicht neu. Erhard verfiel auf den Titel »Wohlstand für alle«, weil er sich als den echten Sozialdemokraten positionieren und die SPD enterben wollte. Wie seinem Buch zu entnehmen ist, verstand sich Erhard - nicht nur scherzhaft - als der wahre Vollstrecker von Marx.
Mehr als fünfzig Jahre später stellt sich die Schlachtordnung also wie folgt dar: Die bekennende Marxistin Sahra Wagenknecht ist ganz stolz darauf, Erhard zu beerben, dessen ganzer Stolz es war, die Marxisten zu beerben. So kann man sich im Kreis drehen, bis zwischen Linken und Konservativen vollste verbale Konvergenz erreicht ist.
Manche fragen sich, warum »FAZ«-Herausgeber Frank Schirrmacher oder CSU-Querulant Peter Gauweiler so begeistert von Wagenknecht sind. Doch dieses Rätsel löst sich, wenn man wahrnimmt, wie eigenwillig Wagenknecht Erhard rezipiert. Nun wäre es noch zu verkraften, wenn sie sich nur aus taktischen Motiven auf Erhard beriefe. Doch dahinter verbirgt sich auch eine theoretische Übereinstimmung. So wenig wie Erhard kann oder will auch Wagenknecht etwas mit der Kategorie Geld anfangen.
Um bei Erhard zu beginnen: Er wurde 1897 geboren, hat also als Erwachsener die Weltwirtschaftskrise ab 1929 miterlebt, die vor allem eine Finanz- und Bankenkrise war. Es ist biografisch keineswegs naheliegend, dass Erhard in seinem Buch »Wohlstand für alle« das Wort »Bank« großräumig ausspart. Aber er klebte an der klassisch liberalen Idee, dass Geld letztlich nur ein neutrales Schmiermittel für die Realwirtschaft sei. Es erleichtert den Handel - und was die Sparer zur Bank tragen, das wird von den Unternehmern in die Produktion investiert. Fertig. In dieser Welt sind Finanzkrisen unerklärlich und müssen deswegen ignoriert werden.
Auf den ersten Blick ist Wagenknecht das ganze Gegenteil: Sie ignoriert die Finanz- und Eurokrise überhaupt nicht, sondern hat darüber schon zwei Bücher geschrieben. Doch an einer theoretisch zentralen Stelle kommt es zu einer Konvergenz mit Erhard: Wagenknecht tut so, als wären Banken normale Unternehmen. Wenn bankrotte Firmen schließen müssen, dann soll dies auch für überschuldete Banken gelten. Damit behandelt sie Geld, als wäre es eine neutrale Ware wie Autos. So wie eine Pleite von Opel keinen volkswirtschaftlichen Schaden hinterlassen würde, so folgenlos stellt sich Wagenknecht auch den Bankrott der Deutschen Bank vor.
Also fordert sie in der Eurokrise einen radikalen »Schuldenschnitt« für die Banken. Die »Zockerbuden« sollen kein staatliches Geld erhalten, sondern auf ihren Schrottpapieren in Griechenland oder Spanien sitzen bleiben. Durch die Kaskadenwirkung auf den Finanzmärkten wären dann zwar alle Versicherungen und Banken Pleite, aber das findet Wagenknecht nur gerecht.
Natürlich weiß sie, dass Geld anders funktioniert als Autos - und dass bei einer Bankpleite auch die Kleinsparer betroffen wären. Also soll der Staat Spareinlagen bis zu einer Million Euro absichern. Aber ansonsten soll die Kredit- und Vermögensblase mit einem lauten Knall platzen. Freudig sieht Wagenknecht einer Welt entgegen, in der die Reichen einen großen Teil ihres Reichtums verlieren und alle Banken verstaatlicht sind. Danach soll es dann wie bei Erhard weitergehen: Kleinsparer sparen, und Firmen investieren dieses Geld, um ihre Produktion zu erweitern. Endlich kann die Marktwirtschaft ungetrübt funktionieren, weil die leistungslose Klasse der Finanzmillionäre eliminiert ist.
Bei diesem lustvollen Crash-Szenario übersieht Sahra Wagenknecht jedoch, dass man spätestens seit 1929 weiß, dass ökonomisch nichts so gefährlich ist wie eine Massenpleite von Banken. Denn dann wird nicht nur Finanzvermögen vernichtet - sondern es stockt auch die gesamte reale Produktion, weil die Nachfrage zusammenbricht. Wie Erhard glaubt auch Wagenknecht an eine saubere Trennung zwischen Finanz- und Realwirtschaft. Aber genau diese Trennung gibt es nicht.
Wer die Realwirtschaft nicht gefährden will, muss die Banken retten. Für Wagenknecht ist das undenkbar, weil sie fürchtet, dass dann auch die Millionäre gerettet würden. Doch dieser Automatismus existiert nicht, wie erneut die erste Weltwirtschaftskrise ab 1929 zeigt. In den USA begann danach der »New Deal« unter Präsident Roosevelt, zu dem auch eine drastische Steuerpolitik gehörte. Die Einkommenssteuer stieg auf 90 Prozent, die Erbschaftsteuer lag bei 77 Prozent. Gleichzeitig wurden die Zinsen unter die Inflation gedrückt, so dass sich das Geldvermögen schleichend entwertete. Diese »finanzielle Repression« war ein voller Erfolg: Die Staatsverschuldung blieb unter Kontrolle, obwohl ein Zweiter Weltkrieg zu finanzieren war, und die Reichen verloren ihre Macht und große Teile ihres Einkommens. Die Millionäre wurden also enteignet, obwohl sie ihr Eigentum offiziell behielten. Man steuerte durch Steuern. So schlicht.
Interessant also ist: Warum zitiert Wagenknecht beharrlich Erhard, obwohl er nichts zu Finanzkrisen zu sagen hat - wo es doch viel näher läge, sich auf Roosevelt und seine Nachfolger zu beziehen, die einen Crash erfolgreich gemanagt und die Reichen nachweislich enteignet haben?
Die Antwort: Wagenknecht ist eine überzeugte Marxistin. Sie ist zwar für Reichensteuern, aber sie traut ihnen nicht. Für sie sind letztlich die Eigentumsverhältnisse entscheidend: Wer das Kapital besitzt, besitzt die Macht. Und um diese Macht zu brechen, verlangt sie einen extrem riskanten »Schuldenschnitt«. Dies wirkt weit weg von Erhard - und ist ihm doch ganz nah. Auch die Ordoliberalen kreisen manisch um das Eigentum. Nur dass sie es bewahren wollen, während Wagenknecht es enteignen möchte. Diese Nähe ist kein Zufall, sondern hat eine lange Tradition: Marx hat seinen Begriff vom Kapital ja nicht selbst erfunden - sondern bei den liberalen Klassikern entlehnt und diese nur »von dem Kopf auf die Füße gestellt«.
Beiden Traditionen gemeinsam ist, dass sie mit dem Keynesianismus nichts anfangen können, der auf eine »makroökonomische Steuerung« setzt. Genau diese Lösung hat sich aber historisch im New Deal bewährt. Es ist daher keine harmlose Pointe, wenn Wagenknecht ständig Erhard zitiert.
»Das, was ich als ›Kreativen Sozialismus‹ entwerfe, ist natürlich kein Zurück-zur-alten-Bundesrepublik. Das kann es auch nicht sein. Aber ich finde es wichtig, dass man die Parteien, die sich auf diese Tradition berufen, vor allem die CDU, damit konfrontiert, was diese Tradition eigentlich ist. Wenn man die Losung »Wohlstand für alle« heute ernst nimmt, dann muss man ja die Systemfrage stellen. Der Kapitalismus bedeutet offensichtlich nicht »Wohlstand für alle«, sondern er bedeutet extremen Reichtum für eine sehr kleine Oberschicht, und eine ganz brachiale Zerstörung des Wohlstandes für gesellschaftliche Mehrheiten. [...]
Ich gehe natürlich deutlich weiter als der Ordoliberalismus, der die Grundlage der Erhard'schen Politik war. Walter Eucken als einer der theoretischen Väter dieser Richtung schrieb, dass man die Konzentration privater Wirtschaftsmacht verhindern muss. Ich würde dem entgegensetzen: Nein, in bestimmten Bereichen brauchen wir gesellschaftliches Eigentum und Belegschaftseigentum, um dem entgegenzuwirken. Aber die Frage selbst ist sogar in den damaligen Theorien schon auf der Tagesordnung gewesen.«
Sahra Wagenknecht im Mai 2012 auf einer nd-Podiumsdiskussion in der Uni Leipzig
Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der »tageszeitung« (taz). Sie ist ausgebildete Bankkauffrau und hat Wirtschaftsgeschichte und Philosophie an der FU Berlin studiert. Von ihr stammt das Buch »Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht« (Westend 2010)
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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