Kant fährt Zug

  • Mathias Wedel
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Dieser dramatische Verfall der Sitten! Und das geschätzt seit 2000 Jahren! Besonders im überfüllten Regionalzug an einem Freitagnachmittag. Da steht niemand für eine Schwangere auf, auch nicht für eine Alte am Stock! Selbst für eine mit Zwillingen schwangere Alte an zwei Stöcken und mit Koffer würde niemand aufstehen.

Doch ist es nicht so, dass es keine Hilfsbereitschaft gäbe, man muss sie nur erbitten. Seit geraumer Zeit nämlich ist besser beraten, wer niemanden anspricht, und sei es, um ihm Hilfe anzubieten. Wer jemanden anspricht, der gilt schnell als Schnorrer, Verkäufer der Obdachlosenzeitung, als Frotteur, als betrunken oder verrückt. Sich einem Kinde in Gegenwart seiner Mutter nähern - »warte mal, ich glaube, ich habe ein Bonbon für dich« - und man verfällt dem Staatsanwalt! In Zügen, Shopping Mals und auf den Trottoirs üben sich die Menschen in der Fertigkeit, durch einander hindurchzublicken, wie durch zerkratztes Glas. Es ...


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