Vielfältige Theorie und Praxis

Unterschiedliche Spielarten anarchistischer Herrschaftskritik zu Beginn des 21. Jahrhunderts

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 8 Min.
»Anarchia« (griechisch: Herrschaftslosigkeit) ist in aller Munde. Bürgerliche Feuilletons entdecken den auf basisdemokratischen Idealen und Transparenz verpflichteten Anarchismus als Alternative zum unattraktiven Berufspolitikertum. Die Werke des Anarchisten David Graeber (auf dem Foto unten in einem T-Shirt der 1905 von Sozialisten und Anarchisten gegründeten Gewerkschaft »Industrial Workers of the World«) sind Bestseller. Die experimend-Seiten gehen den Fragen nach, worauf diese Popularität und Faszination beruhen und wie sich eigentlich Anarchistinnen und Anarchisten selbst verstehen und wofür sie kämpfen.

Das anarchistische Welttreffen in der Schweiz vor wenigen Wochen mit mehr als 3000 Teilnehmern fand ein überraschend breites und positives Echo in der bürgerlichen Presse. Zu Jahresanfang fragte die konservative FAZ angesichts der aktuellen Krisenproteste sogar, ob der Anarchismus die linke Utopie der Zukunft wäre. Die ersten erschienenen Bände der Tagebücher des Anarchisten Erich Mühsam verkaufen sich gut und wurden in den Feuilletons positiv besprochen. Und in Maybrit Illners Talkrunde schaffte es David Graeber, der derzeit als anarchistischer Kopf der Occupy-Bewegung in den Medien herumgereicht wird, zur besten Sendezeit ins deutsche Fernsehen. Der Anarchismus, so scheint es, erlebt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine ungeahnte Präsenz und eine ganz neue Akzeptanz.

Dabei stellt sich die Frage, was sich hinter dem oftmals diffus verwendeten Begriff Anarchismus eigentlich genau verbirgt: ein praktisches politisches Konzept, das seit Jahrzehnten integrativer Bestandteil sozialer antiautoritärer Bewegungen ist und aktuell in den sich internationalisierenden Krisenprotesten von Oakland bis Athen ebenfalls eine wichtige Rolle spielt? Oder ist das vor allem eine herrschaftskritische politische und ökonomische Theorie aus dem 19. Jahrhundert? Pierre Proudhon, der erstmals den Begriff »Anarchismus« in einem positiven Sinn verwendet hatte, war ein ausgesprochener Frauenhasser. Und Michael Bakunin, der wichtigste Vertreter des Anarchosyndikalismus, war überzeugter Antisemit. Was können also anarchistische Theorien heute sozialen Bewegungen, die feministisch und antirassistisch geprägt sind, noch bedeuten?

Im vergangenen Jahr erzielte das Manifest »Der kommende Aufstand«, verfasst vom französischen Autorenkollektiv »Das Unsichtbare Komitee«, eine weit über das »linke Ghetto« hinausgehende Breitenwirkung, wie das für linke Theorietexte sonst kaum vorstellbar ist. Dessen Grundforderung lässt sich pointiert in dem darin enthaltenen Satz »Kommunismus leben - Anarchie verbreiten« zusammenfassen.

In Deutschland eher marginale Bedeutung

Für die sozialen Bewegungen hierzulande spielen anarchistische Gruppen und Verbände eine marginale Rolle. Von vielen werden zwar die Autonomen als Anarchisten wahrgenommen, was aber nicht ganz korrekt ist. Denn die orientieren sich in Gestus, organisatorischem Selbstverständnis und vor allem nominell an der italienischen Autonomia-Bewegung der 70er Jahre, einer anti-insititutionellen kommunistischen Bewegung. Dennoch gibt es im autonomen Spektrum hierzulande von jeher nicht wenige Akteure mit einem anarchistischen Selbstverständnis. Zum Auftakt der hiesigen Krisenproteste am 31. März in Frankfurt am Main mobilisierte auch ein explizit anarchistischer Verband. Die FAU (Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union) gehörte mit dem sich kommunistisch verstehenden Ums-Ganze-Bündnis zum Vorbereitungskreis des »M31«-Protesttags. Die anarchistische gewerkschaftliche Organisation mobilisierte parallel über ihr Netzwerk von New York über Madrid bis Zagreb dezentrale Protestaktionen.

In Griechenland spielen anarchistische Gruppen eine tragende Rolle bei den Protesten der vergangenen Jahre, wo sie dem autoritären Krisenmanagement medienwirksam in Schwarzen Blöcken entgegentreten. Schon bei den aufstandsartigen Zusammenstößen im Dezember 2008, nachdem ein Polizist in Athen einen 15-jährigen Punk erschossen hatte, sorgten anarchistische Gruppen für eine fast dreiwöchige Auseinandersetzung mit staatlichen Organen. In Spanien betonen die sogenannten »Indignados« zwar, dass sie keiner politischen Richtung angehören, im Besetzercamp im andalusischen Granada waren im vergangenen Sommer aber zahlreiche Punks und Anarchisten präsent. Im linken Szeneviertel der subkulturell geprägten Universitätsstadt gleich hinter der zentral besetzten Plaza hängen an den Hausmauern ähnlich flächendeckend Plakate der anarchosyndikalistischen Jugend wie in Berlin-Kreuzberg Plakate der Antifaschistischen Aktion. Die linksradikal-anarchistischen »anti-sistemas«, wie sie die spanische Presse bezeichnet, prägen auch das Protestgeschehen in Barcelona, wo sie sich in den letzten Jahren immer wieder heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. In Griechenland datiert die anarchistische Bewegung auf die Zeit Anfang der 80er Jahre. »Es gab Anarchisten, aber sie fingen erst 1981 an, sich so zu nennen. Und selbst dann war es weniger zur Bezeichnung und Identifikation als vielmehr zur Provokation. Nachdem die Sozialisten 1981 an die Macht gekommen waren, sagten wir, um zu provozieren, wir seien Anarchisten«, so ein anarchistischer Herausgeber aus Athen. Die Negation als zentrale Geste ist konstituierend für die anarchistische Bewegung.

New Anarchism und Post-Anarchismus

Eine historisch konsistentere Verbindung heutiger außerparlamentarischer Politik mit einer anarchistischen Geschichte gibt es in den USA. Emma Goldmann, Sacco und Vanzetti, aber auch die Haymarket-Riots, die zur Entstehung des 1. Mai als Arbeiterkampftag führten, sind die US-Arbeiterbewegungsmythen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Kurz nach den Krawallen in Seattle 1999 gegen die WTO-Konferenz erlebten die USA einen regelrechten Anarchismus-Hype, der im Begriff des »New Anarchism« seinen Ausdruck fand. Erfunden hatte diese »Überschrift« damals David Graeber in einem Artikel in der New Left Review. Der amerikanische Bewegungsanarchismus der 2000er Jahre verstand sich vor allem als Anti-Globalisierungsbewegung. Die Direct-Action-Networks mit ihrer »Vielfalt der Taktiken« spielten hier ebenso eine Rolle wie eine subkulturelle Unterfütterung durch die musikalische Hardcore-Szene, aber auch die auf jegliche Drogen verzichtenden Straight-Edge-Aktivisten und die Tierrechtsbewegung gehören zum breit gefächerten anarchistischen Spektrum in den USA.

Aber auch in den kanadischen und amerikanischen Universitäten ist der Anarchismus mittlerweile angekommen. In der akademischen Debatte um den »Post-Anarchismus« geht es um eine Verknüpfung poststrukturalistischer und queer-feministischer Theorie (vor allem von Jacques Lacan, Michel Foucault und Judith Butler) mit anarchistischen Klassikern wie Bakunin und Landauer. Eine derartige neue Anarchismuslektüre gibt es im hiesigen akademischen Bereich kaum. Aber im Zuge einer herrschaftskritischen linken Theorie wird hierzulande in der zeitgenössischen Philosophie bei Autoren wie Giorgio Agamben und Jacques Ranciere nach anarchistischen Inhalten gesucht. Auch die Lektüre klassischer anarchistischer Autoren wie Kropotkin und Landauer erfreut sich hierzulande gerade größter Beliebtheit. Gustav Landauers Gesamtwerk wird gerade neu editiert. In den USA ist der Anarchismus derweil sogar schon in der literarischen Hochkultur angekommen. Thomas Pynchon, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller in den USA, veröffentlichte 2006 mit »Gegen den Tag« ein 1600 Seiten umfassendes Epos, in dessen Zentrum ein mit Dynamitstangen werfender anarchistischer Gewerkschaftler dem kapitalistischen Normalvollzug zu Leibe rückt.

So präsent der Anarchismus im Moment auch ist, in seinen unterschiedlichen Spielarten ist er so vielfältig, dass man kaum von einer konsistenten Bewegung sprechen kann. Zwischen einer vielleicht vor allem auf Antikommunismus zurückzuführenden Begeisterung konservativer Feuilletonredakteure, den Steine werfenden Mitgliedern des Schwarzen Blocks in Athen, Barcelona oder Oakland und den auf Drogen verzichtenden, Hardcore-Musik hörenden Tierrechtsaktivisten in den USA liegen Welten. Occupy bzw. die spanischen »Indignados« als basisdemokratische Bewegungen setzen formal mit ihren offenen Versammlungen auf Strukturen, die anarchistischen Praktiken entlehnt sind. Inhaltlich geht es bei den bildungsbürgerlich geprägten Protesten der »Empörten« vielen aber auch nur um eine Verbesserung oder den Erhalt mittelständischer Lebenswelten. Mit der radikal-antikapitalistischen Geste der anarchistischen Negation hat das wiederum kaum etwas zu tun. Ob sich die aktuelle Beschäftigung mit Anarchismus zu einer neuen außerparlamentarischen politischen Alternative entwickelt oder bloß ein Trend für das bunte Potpourri einer aktuellen Protestkultur bleibt, wird die Zukunft zeigen.

Florian Schmid, 45, kommt aus Niederbayern. In seiner Jugend wurde er durch Punkmusik und die Proteste in Wackersdorf geprägt. Seit Ende der 80er lebt er in Berlin.

Gabriel Kuhn, 39, Autor und Übersetzer, Stockholm
Den Anarchismus entdeckte ich mit 16 Jahren. Die Kombination von Antiautorität und sozialer Gerechtigkeit begeisterte mich unmittelbar. Den Grundprinzipien des Anarchismus hänge ich bis heute an: Eine anarchistische Gesellschaft verspricht das größte Glück für uns alle. Dieses Versprechen hat etwas Utopisches, aber Utopien sind ausgezeichnete Orientierungspunkte für unser tägliches Handeln. Das Label des Anarchismus an sich ist nicht so wichtig, aber es hilft, sich politisch zu positionieren. Wenn du gesellschaftlich etwas bewirken willst, musst du auch gesellschaftlich wahrnehmbar sein.

Cindy Milstein, Pädagogin, New York
Ich wurde Anarchistin, weil ich andere AnarchistInnen traf und begriff, dass es für meine Werte einen Namen, eine Geschichte und eine Praxis gab. Schon als Kind wurde ich ermutigt, mich sozial zu engagieren, aber immer auf der Basis eigenen Denkens. Für mich ist das bis heute selbstverständlich, aber es steht in direktem Gegensatz zur herrschenden Ordnung. Deshalb bleibt der Anarchismus der Maßstab meines Handelns. Schließlich gibt es nur einen Weg, um zu einer anderen Gesellschaft zu gelangen: das nie perfekte, aber immer wunderbare Experimentieren mit nicht-hierarchischen Lebensformen.

Lucio Urtubia, 81, Maurer und Bankräuber, Paris
Die Ungerechtigkeit hat mich politisiert und in Frankreich wurde ich zum Anarchisten. Ich arbeitete auf dem Bau und traf dort auf Flüchtlinge, Anarchisten aus Katalonien. Die fragten mich nach einer Weile nach meiner Weltanschauung. Ich sagte, ich sei Kommunist, weil in Franco-Spanien alle Diktatur-Gegner als Kommunisten bezeichnet wurden. Daraufhin schmunzelten sie und sagten: »Du willst Kommunist sein? Du bist doch Anarchist, so wie Du Dich verhältst und wie Du redest.« Und damit hatten sie wohl Recht, meine Überzeugungen waren anarchistisch, ich war wie sie für die Übernahme der Verantwortung durch die Arbeiter selbst.

Stefanie Knoll, 29, Filmemacherin, Kapstadt
Seit 14 Jahren bin ich Anarchistin, weil ich schon immer anderen Menschen helfen wollte. Vor allem hier in Südafrika ist klar, dass wir erst frei sein werden, wenn alle anderen auch frei sind, und dass Freiheit ohne Gleichheit nicht funktioniert. Ich bin Anarchistin, weil der Anarchismus die einzige Ideologie ist, die es uns ermöglicht, in Frieden und Vielfalt miteinander zu leben und unsere Umwelt zu respektieren. Ich bin stolz, Teil dieser wunderbaren, vielfältigen und globalen Bewegung zu sein, die eine einzigartige feministische, antiimperialistische und antirassistische Geschichte hat.

Lutz Schulenburg, 59, Verleger, Hamburg
Für mich ist der Anarchismus nicht zu trennen von den vielfältigen Formen der sozialen Bewegungen. Auch wenn der Anarchismus als Theorie sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituierte und in der entstehenden Arbeiterbewegung eine bedeutsame Strömung wurde, ist er ganz durchdrungen vom Geist des Aufruhrs in der vorindustriellen Geschichte. Dies ist weder Mangel noch Quelle voluntaristischer Handwerkelei, sondern hat die Anarchie zur verlässlichen Wetterfahne gemacht, die anzeigt, wie weit die Praxis gediehen ist, um die Totalität der Staatsmacht und des Ausbeutungsregimes zu negieren. Die Anarchie ist ein Erbe, das jederzeit angetreten werden kann - als Rückkunft des geschichtlich Unabgegoltenen.

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