Ein Sieg, der die Niederlage beschleunigte
Vor 200 Jahren: Die Schlacht bei Borodino markierte den Anfang vom Ende Napoleons
Am 23./24. Juni 1812 überschritt Napoleons Grande Armée den Njemen und damit die russische Grenze. Die französischen Truppen, bestehend u. a . aus Polen, Württembergern, Sachsen, Italienern, zählten gut 350 000 Mann. Ihnen gegenüber standen etwa 240 000 Russen unter Waffen, befehligt von dem strategisch weit vorausschauenden Michail Barclay de Tolly, einem baltischen Adligen schottischer Herkunft, dem tollkühnen, aus einem georgischen Adelsgeschlecht stammenden Fürsten Pjotr Bagration sowie dem später in den Grafenstand erhobenen Alexander Tormasow.
Zu Napoleons Erstaunen zogen sich die Russen vorerst ohne größere Kämpfe zurück. Ob sich hinter diesem ständigen Ausweichen eine geniale, langfristig angelegte russische Strategie verbarg, wie mancher glaubt, ist zu hinterfragen. Zwar hatte de Tolly schon 1807 darüber nachgedacht, Napoleon, falls dieser weiter nach dem Osten expandieren sollte, in die Tiefen Russlands zu locken und ihm dort ein zweites Poltawa (1709 gegen die Schweden) zu bereiten. Und auch andere äußerten sich - nun schon im Jahre 1812 - in diesem Sinne. Doch scheint es, dass es Gründe gab, die anfangs wenig mit einer Strategie »verbrannter Erde« und nachhaltigen Ermattens des Gegners zu tun hatten.
1805 war die Schlacht bei Austerlitz verloren gegangen. 1807 folgten die Schlacht bei Preußisch-Eylau mit nur halbem russischen Erfolg, und im Sommer dann die vernichtende Niederlage bei Friedland. Angesichts der französischen Übermacht bestand die berechtigte Angst, erneut einen Misserfolg zu erleiden. Wer aber wollte dafür verantwortlich sein? Es war also die Furcht der Militärführung, zu versagen, die ein ständiges unglückseliges Schwanken zwischen entschiedener Gegenwehr und Rückzug bewirkte. Hinzu kamen Rivalitäten und In-trigen innerhalb des russischen Offizierskorps. Einerseits waren viele der nichtrussischen Stabsoffiziere hochqualifizierte militärische Führer und dem Zaren treu ergeben, andererseits misstraute ihnen, insbesondere den Deutschen, die russischstämmige Generalität, zumal diese sich in Karrierefragen nicht ausreichend geschätzt sah.
Von Anbeginn gehörte die militärische Initiative Napoleon. Seine Invasionsarmee marschierte unentwegt vorwärts und siegte in den meisten Gefechten, aber die vom Eroberer sehnlichst herbei gewünschte Entscheidungsschlacht blieb aus. Am 15./16. August war das gut zu verteidigende Smolensk erreicht, doch in der Nacht vom 18./19. August wurde es von den Russen verlassen. Das stetige Zurückweichen und Hinterhetzen führte auf beiden Seiten zu schweren materiellen und physisch-psychischen Belastungen. Die Truppen schmolzen zahlenmäßig dahin, auch durch Krankheiten. Während die Russen sich versorgen konnten, litten die französischen Soldaten zunehmend an Hunger und Durst.
Inzwischen hatte Zar Alexander I., um die Querelen in der Armeeführung zu beenden, einen neuen Oberbefehlshaber eingesetzt: Michail Kutusow, einen gestandenen, aber nun alten und müden Militär. Mit ihm war der Mann gefunden, den die russische Gesellschaft akzeptierte und den man im Falle einer größeren Niederlage leicht zum Sündenbock machen konnte.
Kutusow setzte den Rückzug fort, sehr zum Ärgernis von Armee und Volk. Erst beim Dorf Borodino, 124 Kilometer westwärts von Moskau, entschloss er sich zur Schlacht. Moskau ohne ernsthaften Widerstand Napoleon auszuliefern, hätte ihm niemand verziehen. Die russischen Truppen waren dreifach gestaffelt aufgestellt, auf Defensive ausgerichtet. Am frühen Morgen des 7. September griffen die Franzosen an. Kaum schlugen die ersten Kanonenkugeln auf russischer Seite ein, ließ sich Kutusow in das sichere Dorf Gorki bringen. Von dort konnte er nur noch indirekt auf das Kampfgeschehen einwirken, das von flexibel reagierenden russischen Generälen gelenkt wurde. Auch der von einer fiebrigen Erkältung geplagte Napoleon saß schlaff und fast unbeweglich auf seinem Klappstuhl, das Gefechtsfeld zwar fest im Blick, doch alles andere als ein energischer Schlachtenlenker. Seine größte Sorge galt seiner Garde, die er konsequent aus dem Kampf raushielt.
Die Schlacht wogte den ganzen Tag hin und her. Die Russen verteidigten sich mit äußerster Tapferkeit und großer Selbstaufopferung. Doch die französischen Regimenter standen ihnen in nichts nach. Am Morgen eroberten sie Borodino und überschritten das Flüßchen Kolotscha. Heftigst umkämpft wurde sodann die sogenannte Rajewski-Schanze im Zentrum der russischen Frontlinie. Hier wären die Franzosen fast siegreich durchgebrochen, wenn nicht eine Attacke der Kosaken unter ihrem Ataman Matwej Platow an deren rechter Flanke für Ablenkung gesorgt hätte. Am späten Nachmittag mussten die Russen wieder weichen und auch das Dorf Semjonowskoe aufgeben. Es gelang ihnen die Blockierung der Alten Smolensker Straße. Geordnet zogen sich bis 18 Uhr alle russischen Verbände zurück, um sich neu aufzustellen. Auch Napoleon sammelte seine Truppen, um die Schlacht fortzuführen. Indes gab Kutusow gegen Mitternacht seinen Leuten den Befehl zum Abzug, nachdem man ihm die hohen russischen Verluste gemeldet hatte.
Die Deutung der Schlacht bei Borodino setzte unmittelbar nach ihrem blutigen Ende ein. Nüchtern fiel Napoleons Urteil aus: Es war nur ein halber Sieg. Die Russen wiederum hatten keine völlige Niederlage erlitten, aber es blieb eine Niederlage. Selbst Mythenschmied Leo Tolstoi vermochte nicht, sich in seinem weltberühmten Roman »Krieg und Frieden« (1868) eindeutig festzulegen, schwankte zwischen einem russischen Sieg und der Einsicht, »dass eine gewonnene Schlacht nicht die Eroberung eines Landes nach sich zu ziehen braucht«. Der sowjetischen Geschichtsschreibung galt Kutusow lange als der wahre Sieger, strategisch, taktisch, moralisch. Wenn aber ein so großartiger russischer Sieg bei Borodino erfochten wurde, warum behielt dann Napoleon - zumindest zeitweilig noch - die Initiative und konnte in Moskau einrücken?
Nach Borodino stand Kutusow vor der Alternative, noch eine Schlacht zu wagen und diese eventuell zu verlieren und mit ihr die Armee und Moskau. Oder die Armee zu erhalten und Moskau aufzugeben. Er entschied sich für die zweite Möglichkeit. Im brennenden, von - wie nicht mehr zu bezweifeln ist - vor allen Russen angezündeten Moskau wurde für Napoleon die Katastrophe seines Feldzuges offenkundig. Er war am Ende, seine Armee war erschöpft und demoralisiert. Politisch war er ebenfalls gescheitert. Niemand wollte mit ihm einen Waffenstillstand oder gar einen Friedensvertrag schließen. Es war sein großer Fehler, diesen absurden Marsch gen Moskau gewagt zu haben. Als er im Oktober 1812 die Stadt an der Moskwa verließ, war die militärische Initiative in die Hand der Russen übergegangen, die sie nun nicht mehr her gaben. Rückblickend betrachtet, war die Schlacht bei Borodino nicht nur um Russland geschlagen worden, sondern bereits um die Befreiung Europas vom Napoleonischen Joch.
Am 18. September wird im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin der Stummfilm »1812« (18 Uhr) gezeigt. Am selben Ort beginnt am 22. September (9 Uhr) eine zweitägige Konferenz »Vaterländischer Krieg 1812«. Am 27. September lädt das Sorbischen Institut in Bautzen zu einem Kolloquium »200 Jahre Schlacht bei Borodino. Russland im Krieg gegen Napoleon« (ab 12.30 Uhr).
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.