Fontane, reisend: Statt Golf die Spree!

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Süden war nicht seine Welt. Jahrzehnte vorher waren deutsche Schriftsteller und Künstler noch scharenweise aufgebrochen, um die antiken Stätten zu sehen und hinterher ihr Glück, den Gewinn ihrer Exkursionen auch in Berichten zu schildern. Er, Fontane, konnte ihre Begeisterung nicht teilen.

Gut, er fuhr auch nach Italien, zweimal sogar, einmal mit seiner Frau, das andere Mal allein, aber auf seine Kosten ist er, auch wenn ihm vieles gefiel, nicht gekommen. Er absolvierte, immer neugierig und gut präpariert, das obligatorische Programm, besichtigte Plätze, Kirchen, Klöster, Paläste, Museen, fand manches schön, anderes überladen oder bloß dekorativ und holte sein Notizbüchlein raus, um die Eindrücke festzuhalten. Ins Schwärmen geriet er dabei nur selten. »Auch die Galatea, die so berühmt ist«, schrieb er am 1. November 1874 in Rom über Raffaels Schöpfung, »ließ uns beide kalt. Es mag sehr schön sein; mehr ist nicht zu sagen.« Kurz darauf, in einem Brief an Mathilde von Rohr, wurde er deutlicher. Seine bescheidene Lebensaufgabe, gestand er, liege nicht »am Golf von Neapel, sondern an Spree und Havel, nicht am Vesuv, sondern an den Müggelsbergen«.

Trotzdem brach Theodor Fontane immer wieder mit Freuden auf, um sich in der Welt umzusehen. Irgendein kleines Heft hatte er immer dabei. Da trug er ein, wo er gewesen war und was er erlebt hatte, manchmal, etwa beim Aufenthalt in Weimar, reichte es gerade mal zur Aufzählung der besuchten Häuser und Stätten, ein andermal mussten Stichworte genügen, dann wieder, vor allem bei seinen Fahrten durch Frankreich, wurde er ausführlicher und beschrieb detailliert, was ihm bei seinen Exkursionen aufgefallen war. Er gab sich dabei eher nüchtern und lakonisch, notierte rasch, wann er aufgestanden war, Wetter, Besichtigungen, Briefe, Besuche und verkniff sich meist jedes schmückende Wort. Nur wenn er von seinen Begegnungen mit anderen Menschen berichtete, ließ sich auch schon mal der hinreißende Causeur blicken.

Einige dieser Notizbücher sind, wenngleich unzulänglich ediert, schon früher in unterschiedlichen Publikationen gedruckt worden, fünf lagen bislang unveröffentlicht im Archiv und kommen erst jetzt in einem umfangreichen Band ans Licht, der sämtliche Reisetagebücher Fontanes bündelt. Die respektable Sammlung komplettiert die Tagebuchabteilung in der Großen Brandenburger Ausgabe, die 1994 mit den Journalen der Jahre 1852 bis 1858 und 1866 bis 1898 eröffnet wurde. Damals, in den ersten beiden Bänden, sah man den disziplinierten Arbeiter, der unermüdlich an seinen Kritiken, Erzählungen und Romanen schrieb, sein stilles, unaufgeregtes Leben zwischen Schreibtisch und Familie, den Spaziergänger, Briefschreiber, Sommerfrischler, Theater- und Salonbesucher. Nun kommt Fontane mit seinen Impressionen aus Schleswig-Holstein und Dänemark, Thüringen, Franken, Schlesien, Frankreich, den Rheingegenden, der Schweiz und Italien zu Wort. Und zeigt, dass es bei ihm nach wie vor eine Menge zu entdecken gibt, wenngleich nicht immer zu seinem Vorteil.

Der Reisende Fontane, den man hier trifft, ist ein Mann, der Ferien hat. Aber er ist auch der Buchautor und Journalist, der für die stockkonservative »Kreuz-Zeitung« arbeitet und seine Hefte als Gedächtnisstütze für künftige Texte benutzt. Er macht sich Notizen, er skizziert Kirchen, Gebäude, Anlagen (all diese Zeichnungen sind im Band reproduziert), er inspiziert die Schlachtfelder des Preußisch-Dänischen Krieges von 1864, des Preußisch-Österreichischen Krieges 1866 und des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71, füllt manche Seite mit militärhistorischen Daten und Vorgängen, schlendert durch Städte, unternimmt Ausflüge, unterhält sich mit Einheimischen.

Fontane ist Preuße, ist immun gegen die üblichen nationalistischen Töne, aber manchmal hat er ein Brett vor dem Kopf. Ihn ärgert, dass man in Schleswig die besiegten Dänen verspottet (»ein häßlicher Zug«), zumal er dort »einen Anflug von Krähwinkelei, überheblicher Selbstbespiegelung und Ueberschätzung« bemerkt hat, »dazu furchtbare Phrasenherrschaft«. Später, in Frankreich, wird er nicht nur fürs herrliche Rouen schwärmen und in Bazelles achtzig im Krieg zerstörte Häuser zählen («der ganze Ort ist ein Ruinenhaufen»), sondern auch die Tapferkeit und Intelligenz der Franzosen rühmen, den Ton, der in Schlössern und Herrenhäusern herrscht, »immer noch ein Vorbild wahrhaft feiner Sitte«.

Freilich: Der weltoffene, von grassierendem Franzosenhass und nationaler Überheblichkeit weit entfernte Fontane kann andererseits über seinen Schatten nicht springen. Die antijüdischen Ressentiments (die der junge Fontane noch nicht kannte) schleppt er beharrlich mit, wenn er andere Länder und andere Sitten mustert. Breslau findet er im Ganzen, wie er notiert, sehr gut. Und schließt den Eintrag mit einer Einschränkung: »Zu viel Juden, zu viel Unsauberkeit und Häßlichkeit.« Krummhübel ist »geradezu Juden-Badeort«. Eine Unmasse von Juden, meint er, bevölkere den Ort. Da stößt seine Liberalität an ihre Grenzen, er empfindet nicht anders als ein Großteil seiner Landsleute und übernimmt, wenigstens in privaten Äußerungen, kritiklos die gängigen Klischees.

Hier ist wieder ein Band, den man in früheren Editionen nicht findet. Die Vorzüge der Großen Brandenburger Ausgabe offenbaren sich ein weiteres Mal: der Text konsequent und buchstabengenau nach den Handschriften gedruckt (was in heutigen, der modernen Rechtschreibung angepassten Leseausgaben längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist), dazu ein Kommentar, der über das Übliche weit hinausgeht und in den »Reisetagebüchern« die Hälfte des Umfangs (in der soeben ausgelieferten Mordgeschichte »Ellernklipp« fast die Hälfte) beansprucht.

Gotthard Erler, dem die ganze ehrgeizige und fantastische Fontane-Edition zu danken ist, glänzt erneut im einleitenden Aufsatz und in den einführenden, weit ausholenden Kapiteln, die jedem Reisetagebuch vorangestellt sind. Und auch Christine Hehle, die schon mehrere Bände editorisch betreut und kommentiert hat, sorgt für einen Anmerkungsapparat, der sich nicht in simplen Erläuterungen erschöpft.

Es ist der hohe Anspruch, diese bewundernswerte Liebe, Kompetenz und Genauigkeit, die dem Unternehmen die Überlegenheit sichert. Die Große Brandenburger Ausgabe ist jetzt schon, nach über 30 Bänden und lange vor dem Abschluss, die Fontane-Ausgabe fürs 21. Jahrhundert.

Und vergessen wir nicht: Sie sind auch wunderschön, diese Bücher, von Heinz Hellmis in flaschengrünes Leinen gekleidet, auf dem Deckel die goldene Signatur Fontanes, die Umschläge attraktiv und passend mit reproduzierten Gemälden geschmückt. Unbegreiflich nur, dass der Aufbau-Verlag nicht darauf verzichten konnte, »Reisetagebücher« und »Ellernklipp« mit seinem neuen Signet zu versehen. Statt des schlanken, grafisch eleganten »AV« auf dem Rücken der anderen Bände drängt sich nun das kleine, in einen farbigen Kreis gesetzte »a« in die einheitliche Reihe. Ein seltsamer Entschluss. Die Anna-Seghers-Ausgabe, nebenbei, entging diesem Stilbruch bislang (oder vorerst?). Der Band mit den Erzählungen von 1948 und 1949, gerade erschienen, hat das alte (und traditionelle) Signet behalten.

● Theodor Fontane: Die Reisetagebücher, hg. von Gotthard Erler und Christine Hehle, 958 S., geb., 48 €.
● Ellernklipp, hg. von Christine Hehle und Christina Salmen, 232 S., geb., 22 €. Beide Bände in der Großen Brandenburger Ausgabe des Aufbau Verlages.

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