Eine Intimsphäre gibt es hier nicht

Kinder, Drogen, Partnerschaft und Mode-Trends - Alltag im Frauengefängnis Vechta

  • Ellen Meyer, Vechta
  • Lesedauer: ca. 7.5 Min.

Frauengefängnisse sind eine unbekannte Welt. Ein Blick in die JVA Vechta zeigt, wie die Inhaftierten versuchen, trotz aller Enge ihre Würde zu behalten.

Auf dem Sommerfest im Frauengefängnis Vechta herrscht eine besondere Situation. Niedersachsens Justizminister Professor Christian Pfeiffer ist aus Hannover angereist und feiert zusammen mit Bediensteten und Inhaftierten. Ein Unterhaltungsprogramm mit Kabarettisten, Artisten und Musikern bringt Abwechselung in den Alltag der Haftanstalt. Das Frauengefängnis in Vechta begeht derzeit seine zehnjährige »Unabhängigkeit«. Bis 1991 unterstanden die Inhaftierten den Bestimmungen der Justizvollzugsanstalt (JVA) für Männer, weibliche Gefangene galten als wenig beachtetes Anhängsel. Dabei gibt es gravierende Unterschiede. »Frauen sind zunächst Opfer, bevor sie zu Tätern werden. Weit über 90Prozent unserer Drogensüchtigen sind Opfer sexueller Gewalt, sei es, dass sie in ihrer Kindheit vergewaltigt, sei es, dass sie später misshandelt wurden«, sagt Ullrich Krenz, Anstaltsleiter der Frauen-JVA in Vechta. Weltweit sind nur vier Prozent aller Straffälligen weiblichen Geschlechts. Die Zahl ist konstant, die Haftbedingungen jedoch ungleich folgenschwerer und anders als im Männerknast, denn immer dort, wo Frauen sind, gibt es auch Kinder. In Vechta leben über 200 Inhaftierte, von denen wiederum 80Prozent wegen Suchtdelikten wie Drogen-, Alkohol- und Spielsucht einsitzen. Einzelzellen sind eine Rarität, der Knast leidet unter Überbelegung. Auf engstem Raum müssen fremde Menschen zusammenleben und alles miteinander teilen. Eine Intimsphäre gibt es nicht. Zwei Kinder wohnen mit ihren Müttern im Festbau; das bedeutet, dass sie zeitweise mit eingeschlossen sind. Vormittags und nachmittags holt Adelheid Rahmen, Kinderpflegerin im Mutter-Kind-Heim des offenen Vollzugs, die Kleinen in die Freiheit. Die engagierte Erzieherin ist der Mutterersatz für draußen. Spaziergänge und das Spiel mit anderen Kindern sollen Normalität vermitteln. Für die Bediensteten steht das Wohl der Kinder im Vordergrund. »Innerhalb kürzester Zeit entwickeln die Kinder eine starke Bindung an mich. Wenn ich sie durch die Eingangsschleuse zurück zu ihren Müttern bringe, beginnen sie oft zu weinen«, erzählt sie. Trotz dieses Zwiespalts sagen alle inhaftierten Mütter, dass sie das Privileg begrüßen, mit ihren Kindern zusammenleben zu können. Die Bindung überwiegt alle Nachteile. Der Traum nach Liebe und fester Partnerbindung beherrscht drinnen wie draußen die Gedanken. »Wir wollen heiraten!« - mit diesen Worten beginnen Tamara* (28) und Maik* (27) das Gespräch. Beide bekennen sich öffentlich zu ihrer Homosexualität. Im Partnerlook mit Baseballmütze outen sie sich als Lesben. »Wir wollten uns Verlobungsringe kaufen, aber das Geld reicht nicht«, erzählen sie. Ein liebevoller Blick und ein kurzer Austausch von Zärtlichkeiten soll den anderen Inhaftierten zeigen, dass das Paar gegen Intrigen immun ist. »Das Schlimmste am Knast ist der Streit untereinander. An das Wegschließen gewöhnt man sich«, meinen sie. Durch Drogenkonsum hat sich das Verhalten der Gefangenen verändert. Einen Zusammenhalt der Inhaftierten oder einen Ehrenkodex, um sich gegenüber den Bediensteten abzugrenzen, gibt es nicht. Die Befriedigung der Sucht bestimmt das Beziehungsgeflecht. Eine Möglichkeit, sich der Gruppe zu entziehen, existiert nicht. Knast bedeutet Zwangsgemeinschaft mit ständig wechselnden Bezugspersonen. Wenn gegen 20 Uhr die Nachtschicht ihren Dienst beginnt, bricht in den Zellen Lärm aus. Schreiende Gespräche von »Hütte zu Hütte« über Flure hinweg und dröhnende Musik aus CD-Playern sind zu vernehmen. Kommunikation findet überall ihren Weg. Gegen den Drogenschmuggel sind die Bediensteten machtlos. Alles ist erhältlich, hat aber wie draußen seinen Preis. »Der Erfindungsreichtum ist grenzenlos«, berichten die Vollzugsbeamten. Jeder Freigang bedeutet, dass auch Drogen in den Knast kommen können. Für die Gefangenen heißt dieser Verdacht, sich bei der Rückkehr vollkommen zu entkleiden und durchsuchen zu lassen. Dies gilt auch für Abstinenzler. Eine Lebenslängliche sagt: »Es ist so entwürdigend. Ich habe doch nichts mit Drogen zu tun und muss mich trotzdem dieser demütigenden Prozedur unterziehen.« Die Abhängigkeiten, in denen sich die Frauen in Freiheit befunden haben, reichen bis in den Knast hinein. Ehemänner, Freunde oder Väter kümmern sich nach Haftbeginn kaum um ihre »Liebsten«. Die Frauen bleiben sich selbst überlassen. Erst kurz vor der Entlassung tauchen die Männer wieder auf und versuchen, die Lebensgefährtin erneut gefügig zu machen. Drogen betäuben Schmerz und lassen Gitter vergessen. »Ich bin HIV-positiv. Bei meiner letzten Einlieferung vor zwei Jahren ist es festgestellt worden«, sagt Tamara. Maik bekennt: »Ich habe keine Angst vor einer Ansteckung«. Und Tamara fügt hinzu: »Irgendwann vergisst man, dass man krank ist.« Das Pärchen schützt sich und die anderen, indem es sich 24 Stunden in eine acht Quadratmeter große Zelle einschließen lässt. Ohne Fernsehen und Kassettenrecorder isolieren sie sich. »Wir haben nur ein Radio. Eine größere Anzahl Kassetten ist wegen des Drogenschmuggels begrenzt«, berichten sie. Tamara nimmt am Methadonprogramm teil, gibt aber Maik, die sich selbst als »clean« bezeichnet, bei Bedarf davon ab. »Ich bin so geschwächt, dass ich nicht den ganzen Tag arbeiten kann. Hinzukommt, dass ich ständig müde bin«, erzählt Tamara. Eigentlich müsste es auch für sie einen Halbtagsjob geben, wünscht sie sich. Arbeit ist im Gefängnis Mangelware. Ein Platz in der Arbeitstherapie könnte eine Alternative bieten. »Viele unserer Klientinnen sind physisch und psychisch am Ende. Sie gehen lieblos mit ihren Körper um. Einige sind selbstmordgefährdet. Wir müssen sie mit intensiver Betreuung aufbauen und auch an das Arbeitsleben gewöhnen«, erläutert Anstaltsleiter Krenz die Angebote. Maik arbeitet in der JVA als Küchenhilfe. Sie erhält 150 Mark Hausgeld, und 180 Mark werden als Übergangsgeld jeden Monat für die Entlassung zurückgelegt. »Einmal die Woche kommt ein Kaufmann mit kleinem Bus in den Gefängnis-Innenhof. Dort kaufen wir Tabak, Kaffee, Schokolade, Kosmetika und Hygieneartikel«, sagt sie. Die Preise verblüffen: Eine »Bombe«, ein Glas Aldi-Kaffee, kostet 8 Mark, billige Schokolade 1,30 Mark, Nivea-Creme 5 Mark und Haarfarbe 22 Mark. Jede Inhaftierte hat im Schrank einen Safe, wo diese Luxusgüter weggeschlossen werden können, denn was offen herumliegt, ist schnell entwendet. »Ich brauche monatlich 90 Mark für Tabak und Blättchen. Dabei rationiere ich meine Zigaretten und pule noch aus den ausgedrückten Stummeln den Tabakrest«, sagt eine Gefangene freimütig. Da bleibt kaum etwas für Kosmetika übrig. Um ihre Individualität zu bewahren, schminken und frisieren sich die Frauen dennoch nach den neusten Trends. Eine Woche blondiert, die nächste feuerrot, kurz geschnitten oder dauergewellt, auch das ist Frauenknast. Wenn nichts mehr bleibt, wächst die Eitelkeit. Jede Frau kann nach Bedarf, meistens zum Sommer- und Winteranfang, in die Kleiderkammer und mitgebrachte Kleidungsstücke auswechseln. Wer ohne Koffer gekommen ist, wird dort auch eingekleidet. Auf den Fluren wechseln Blusen und Schmuck oft den Besitzer. Sie sind Zahlungsmittel beim Drogenkauf. Spritzen sind in Vechta anonym und kostenlos per Automat erhältlich. Das Pilotprojekt hat sich bewährt. Hepatitis und Aids gehören zu den größten Infektionsrisiken beim Spritzentausch im Knast. Zum Schutz der Frauen engagiert sich Krenz deshalb besonders für die kostenlose Vergabe von Spritzen und hofft, dass es bald eine staatlich kontrollierte Heroinabgabe auch in der JVA Vechta geben wird. Nur so können Abhängigkeiten durchbrochen werden. Jeder, der Drogen will, bekommt sie auch. Die alltägliche Praxis zeigt, dass es trotz regelmäßiger Durchsuchungen keine Möglichkeit gibt, dies zu verhindern. Eine überwachte Ausgabe bietet die Möglichkeit, Aggressivität und Gewalt unter den Süchtigen einzudämmen. Auf drei Knastfluren sind Süßwarenautomaten aufgestellt. Die Süchtigen haben einen vermehrten Bedarf an Zucker, der mit der montags ausgegebenen Schöpfkelle Zucker nicht gedeckt werden kann. Deshalb sind 42 Mark »Ziehgeld« für Süßigkeiten erlaubt, die Angehörige oder Freunde schenken. Verdienst oder Taschengeld reichen dafür nicht aus. »Meine Adoptiveltern haben jeden Kontakt zu mir abgebrochen«, sagt Maik. »Ich habe Verbindung zu meiner Mutter«, äußert Tamara. »Wir wünschen uns Kinder«, meinen sie. Der Traum nach einer eigenen Familie lässt beide strahlen. »Wenn wir beide heiraten, hole ich meine jüngste Tochter zu uns«, fährt Maik weiter fort und blickt lächelnd auf die Partnerin. Sie hat jung geheiratet, um aus dem Elternhaus fortzukommen. Tamara hat eine 12-jährige behinderte Tochter. »Erst war sie bei Pflegeeltern, jetzt lebt sie in einem Heim. Eigentlich habe ich keine Bindung an sie, weil sie mir gleich nach der Geburt weggenommen wurde«, sagt sie. Beide hoffen, dass sie Vechta nach Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe zu Weihnachten verlassen können. Dann würde der Traum nach Freiheit Wirklichkeit. Die andere Seite des Frauengefängnisses: Die meisten der lebenslänglich verurteilten Frauen erleben eine vorzeitige Entlassung nach Verbüßung der Mindesthaftstrafe von 15 Jahren nicht. Viele erkranken an Krebs und werden dann auf dem »Gnadenwege enthaftet«. Oder die Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung wird trotz Lockerung für die Betroffene rigoros zerstört, wie bei Helga A. Nachträglich setzten Richter die Mindeststrafe von 15 Jahren auf Grund einer Gesetzesänderung auf 16 Jahre und sechs Monate fest. Dies bedeutete zugleich auch, dass sich die Fristen des Freigangs verschoben. Seit Jahren hatte Helga A. wegen der Annahme, nach der Mindeststrafe entlassen zu werden, diese Vergünstigung erhalten. Eigentlich wurde die rückwirkende Haftüberprüfung zur härteren Bestrafung von Sexualstraftätern gesetzlich verankert. Helga A. fragt, warum sie betroffen ist, wo ihre Schuld in einer Beziehungstat ganz anders gelagert ist. Sie wiegt 48 Kilogramm, leidet unter Schlafstörungen und Magenbeschwerden. »Frauen werden für die gleichen Delikte härter bestraft als Männer«, sagt sie. Der Absatz des Grundgesetzes, nach dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wirkt für Helga A. wie blanker Hohn. »Den Knast kenne ich seit Beginn der 80er Jahre. Ich könnte Bücher über die Ungleichhei...

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