Tomaten verlieren an Farbe
Liberale und Sozialdemokraten legen bei Wahlen in den Niederlanden zu / Sozialisten bleiben hinter Erwartungen zurück
Eine Verliererin fasste es am besten in Worte. »Es scheint, dass sich ein politischer Erdrutsch vollzieht«, sagte die Christdemokratin Elisabeth Spies, bisher Innenministerin der konservativen Koalition aus der marktliberalen VVD und den Christdemokraten. Letztere haben bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am Mittwoch heftige Verluste erlitten, ebenso wie die rechtsliberale Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders. Alle Verluste gingen zugunsten der beiden Großen: der VVD und der sozialdemokratischen PvdA, die mit 41 respektive 39 Sitzen deutlich vorne lagen. Die Niederlande werden damit zur politischen Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Die zwischenzeitlich hoch gehandelten Sozialisten blieben auf dem Niveau von 2010. Hatten sie zu Beginn des Wahlkampfs noch das Unbehagen gegen die Sparpolitik der letzten Jahre ausdrücken können, so mussten sie diese Kompetenz letztlich an die PvdA abtreten, die mit ihrem deutlichen sozialen Schwerpunkt massenhaft potenzielle SP-Wähler zurückgewinnen konnte. Nachdem die SP zeitweilig als möglicher Wahlsieger gehandelt worden war, gab es am Mittwoch in Den Haag betretene Gesichter. Spitzenkandidat Emile Roemer gab unumwunden zu, auf mehr gehofft zu haben. Die SP, deren Symbol die Tomate ist, hatte Wahlkampf gegen die EU und den Euro-Fiskalpakt gemacht.
Die Sozialisten lehnten das Sparpaket ab, das mit dem Fiskalpakt verbunden war. Die alte Regierung, die von Wilders toleriert wurde, hatte ein Sparpaket von 12 Milliarden Euro geschnürt, um die Vorschriften des Paktes zu erfüllen. Zum Unwillen auch von Wilders, der sich - wie schon seit Jahren - jede Einmischung aus Brüssel verbat.
Bei der Wahlparty der PVV musste Wilders seinen Anhängern erstmals eine Niederlage eingestehen. Wilders, der vor einer riesigen Landesfahne auftrat, kündigte jedoch an, die PVV werde »knallhart« zurückkommen.
Die liberalen Democraten 66, die von zehn auf zwölf Sitze zulegten, hatten in Amsterdam durchaus Grund zum Feiern. Euphorie dagegen bei den Siegern. In einem extra eingerichteten Strandzelt im Den Haager Vorort Scheveningen bebte der Holzboden, als der alte und vermutlich neue Premier Mark Rutte nach Mitternacht ankam und sichtlich ergriffen seine Dankesworte an die Partei richtete. VVD-Ikone Frits Bolkestein gratulierte Rutte zum besten Ergebnis der Parteigeschichte. In Amsterdam beging die PvdA ähnlich ausgelassen das Comeback, das ihr aus scheinbar abgeschlagener Position noch einen Zuwachs von neun Sitzen einbrachte. Im Mittelpunkt stand Spitzenkandidat Diederik Samsom, der zu Optimismus, Einheit und Verbundenheit aufrief.
Genau das dürfte die schwierige Aufgabe werden, die nun auf die Wahlsieger wartet. Inhaltlich liegen beide durch die unterschiedlichen Auffassungen zur Haushaltsdisziplin weit auseinander. Wohl wissend, nach der Wahl womöglich zu einer gemeinsamen Koalition verurteilt zu sein, ließen sich sowohl Rutte als auch Samsom vor dem Urnengang ein winziges Hintertürchen offen.
Am Donnerstag beratschlagten die einzelnen Parteien zunächst untereinander. Im Lauf des Tages erörterten die Fraktionsvorsitzenden mit der Vorsitzenden des Parlaments, Gerdi Verbeet, die Lage. Wahlsieger Mark Rutte wollte sich inhaltlich nicht über den Verlauf äußern: »Als Vertreter der größten Partei muss ich probieren, den Prozess so schnell wie möglich verlaufen zu lassen. Dabei hilft es nicht, wenn ich darüber Mitteilungen mache.« Die Niederlande benötigten »so schnell wie möglich ein stabiles Kabinett«, sagte Rutte in der Nacht zu Donnerstag. Dann werde er dafür arbeiten, dass das Land »gestärkt aus der Krise« in der Eurozone hervorgehe.
Koalitionen zwischen Liberalen und Sozialdemokraten gab es bereits in den 50er Jahren sowie zwischen 1994 und 2002. Zusammen kommen die beiden Parteien auf eine Mehrheit von 80 Sitzen für eine europafreundliche Koalition. Sie strebten aber offenbar eine Erweiterung des Regierungsbündnisses um kleinere Partner an. Viele Beobachter rechnen mit einer langwierigen Koalitionsbildung.
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