Geschichtenerzähler, Steintafeln ... Google

MEDIENgedanken: Bettina Wulff und das Internet

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.
Bettina Wulff hatte ganz offensichtlich genug. Seit Monaten, ja seit Jahren wabern Gerüchte über eine angebliche Rotlichtvergangenheit durch das Internet. Quelle sollen dem Vernehmen nach CDU-Politiker sein, die mit der Bloßstellung Bettina Wulffs in erster Linie ihren Gatten Christian Wulff treffen wollten. Bettina Wulff will jetzt u.a. der Internet-Suchmaschine Google gerichtlich untersagen lassen, dass bei der Eingabe ihres Namens mittels der Funktion Autovervollständigung Begriffe wie »Prostituierte« oder »Escort« als Begriffskombination vorgeschlagen werden.
Dieser Versuch von Bettina Wulff, die Kontrolle über ihre Biografie wiederzuerlangen, ist nicht ohne Risiko, denn der Versuch selbst ist es, der auf das Gerücht erst aufmerksam macht und entsprechende Treffer bei Google provoziert. Man nennt das den »Streisand-Effekt«, benannt nach der Schauspielerin Barbara Streisand. Die hatte 2003 eine Website erfolglos auf Schadenersatz verklagt, weil diese Luftaufnahmen zeigte, auf denen Streisands Haus inmitten anderer Gebäude abgebildet war. Erst durch diesen Prozess wurde die Internet-Gemeinde überhaupt auf Streisands Haus aufmerksam, und was vorher nur einige Wenige interessierte, wurde mittels Schneeballeffekt zum »Klick-Hit« im Internet.
Das Vorgehen von Bettina Wulff rührt aber tatsächlich an einem Problem. Google kann durchaus mögliche Wortkombinationen, die justiziabel sind, sperren. Das funktioniert z.B. beim Begriff »Jude«. Wer diesen in die Suchmaschine eingibt, erhält keine Autovervollständigung. Grund: Seiten, die antisemitische Propaganda verbreiten, sollen nicht unnötig Aufmerksamkeit bekommen. Gleiches gilt für den Begriff »Kinderpornografie« – nach »Kinderpor« ist Schluss mit der Autovervollständigung.
Nicht nur für »Bettina Wulff« wäre das Abschalten dieser Funktion begrüßenswert, denn diese bevormundet den Internetnutzer, weil sie ihm geistige Anstrengung abnimmt. Man kann derart kulturpessimistisch argumentieren und fände sich in guter Tradition. Als die Schrift eingeführt wurde, hatte das mittelbar Einfluss auf unser Gehirn. Das Niederschreiben von Gedanken entlastete unser Zentralorgan. Geschichten wurden nicht mehr weitererzählt, soziale Regeln nicht mehr über Riten von Generation zu Generation mittels empirischen Wissens weitergegeben, sondern konnten (man denke an die 10 Gebote!) auf Pergament oder Steintafeln »gespeichert« und beliebig oft abgerufen werden. Den antiken Philosophen war das suspekt. 370 v. Chr. schrieb Platon: »Wer die Schrift gelernt haben wird, in dessen Seele wird zugleich mit ihr viel Vergesslichkeit kommen, denn er wird das Gedächtnis vernachlässigen. Die Menschen werden jetzt viel zu wissen meinen, während sie nichts wissen.«
Platon irrte. Ob die Menschen vor Einführung der Schrift über mehr Wissen verfügten als der moderne Mensch der Neuzeit, darf zurecht bezweifelt werden. Eine Gesellschaft, die Wissen (welches oftmals zum biologischen Überleben existenziell war) nicht mehr in jeder Generation neu generieren muss, hat »Speicherplatz« für Neues – Muse für die Kunst etwa, für Philosophie, für Wissenschaft.
Wie schon jede neue Kulturtechnik vor ihr hat auch das Internet Vor- und Nachteile. Prinzipiell ist heute menschliches Wissen von jedem Ort der Welt von jedem abrufbar. Ganz gewiss ist dies ein Vorteil: Politische Aktionen können über das Internet angestoßen werden, Schüler müssen nach Informationen nicht mehr mühsam und zeitaufwendig in Bibliotheken stöbern, sondern können mit wenigen Tastatureingaben am PC das nötige Wissen erhalten. Technikoptimisten feiern dies als Fortschritt, Skeptiker sehen die Nachteile – die es zweifelsohne auch gibt. Einer davon ist der, dass wir nie wissen können, ob das, was im Internet steht, auch der Wahrheit entspricht. Das fängt mit falschen Angaben über den Geburtstag eines Prominenten an, die sich hartnäckig im Netz halten, und hat im Unmaß an Verschwörungstheorien zur Mondlandung, zum Anschlag des 11. September 2001, zum Klimawandel etc. längst noch kein Ende. Der Technikoptimist vertraut dabei auf den rationalen Verstand des Menschen, der Wahrheit von Lüge scheiden kann, der Skeptiker sieht diese Möglichkeit wohl, vermutet aber, dass jede Lösung eine Fülle neuer Wahrheitsprobleme schafft.
Jeder technische Fortschritt, zu dem fraglos auch das Internet gehört, geht mit einem Kontrollverlust einher. Am Anfang aller Kultur stand die Macht des gesprochenen Wortes. Geschichtenerzähler manipulierten den menschlichen Geist; sie ließen in den Köpfen ihrer Zuhörer Bilder von Ereignissen entstehen, die nicht unbedingt mit dem real Geschehenen übereinstimmen mussten. Diese analoge Arbeitsteilung war die Basis für kreatives Denken, dessen hässlicher Bruder das Vorurteil war, denn die erzählten Geschichten hatten schon deshalb Wahrheitsanspruch, weil es keine alternativen Informationsquellen gab.
In dem Maße, in dem sich durch den Fortschritt der Zuhörer aus seiner passiven Rolle herausbewegte und selbst durch das Niederschreiben des Gehörten Akteur in der Kommunikation wurde, verloren die Geschichtenerzähler die Kontrolle. Zunächst nur theoretisch, im Laufe der Jahrhunderte immer mehr auch faktisch, je mehr sich die Schrift als Kulturtechnik manifestierte. Im Internet aber geben wir diese Kontrolle wieder ab – an die digitalen Maschinenwesen, denn nichts anderes sind Suchmaschinen wie Google. Es ist der Nutzerschwarm, der mittels Autovervollständigung eine Arbeitsteilung herbeiführt, die zu Kontrollverlust führt – nicht nur für Bettina Wulff.
Es ist dies ein Verlust, der ein zwiefaches Gesicht hat: Er verunsichert, im schlimmsten Fall entmündigt er; er schafft aber auch neue Freiheiten, denn im Idealfall erleichtern die Maschinenwesen uns das tägliche Leben.

Der Autor ist Medienredakteur des »nd«.
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