Eigener Lebensweg und Erfahrungen sind eng verknüpft mit beruflichem Interesse, bedingen sich gegenseitig. Geboren 1920 in Wien, aufgewachsen in einer assimilierten jüdischen Familie, entwickelt Gerda Lerner früh ein Bewusstsein für ungerechte geschlechtsspezifische Rollenzuordnungen. Der Anschluss Österreichs an das NS-Reich bleibt nicht folgenlos: 1939 Emigration in die USA. Im Gegensatz zu ihr nahe stehenden Personen überlebt Gerda Lerner den Holocaust. Trotz »Leben in Übersetzung«, des Verlustes der Auseinandersetzung mittels der Muttersprache, gelingt es ihr, in den USA Fuß zu fassen und sich als feministische Historikerin zu etablieren.
Die emeritierte Professorin der Universität Wisconsin/Madison musste indes Stigmatisierung und antisemitische Angriffe erleiden; es blieb ihr die Erfahrung »anders zu sein« bzw. »als andere definiert zu werden« nicht erspart. Erschreckt liest man von einem Tischgespräch im Münchner Ratskeller während ihres ersten Deutschlandbesuchs in den 90er Jahren: »All das habe ich 1938 in Wien gehört. Da war es wieder, unverändert, ungebrochen, in seiner ursprünglichen Form. Gutgelaunte, witzige, freundliche Bösartigkeit. Gemütliche Grausamkeit.«
Fazit ihrer Arbeit: »Nicht der Unterschied ist das Problem. Das Problem ist die Dominanz, die sich zu ihrer Rechtfertigung auf konstruierte Unterschiede beruft.« Geschlecht, Klasse, Rasse sollten nicht als separate Kategorien gedacht werden, sondern als ineinander verwobenes System soziokultureller Zuschreibungen, die Macht aufrechterhalten sollen. Deutlich wird dies z.B. in ihrer Analyse der Geschichte der Antisklavereibewegung in den USA, deren weibliche Mitglieder erfolgreich die Praxis des gewaltfreien Widerstandes anwandten. »Menschsein bedeutet zu denken und zu fühlen, die Vergangenheit gedanklich zu erfassen und sich eine Zukunft vorzustellen« - in diesem Sinn geht Geschichte uns alle an.
Und das gilt auch ganz speziell für die Frauengeschichte, die nach Gerda Lerner von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung eines feministischen Bewusstseins ist. Ihr würde Anita Dünnebiers und Ursula Scheus Titel »Die Rebellion ist eine Frau« sicherlich gefallen. Porträtiert werden Anita Augsburg (geboren 1857 in Verden) und Lida G. Heymann (geboren 1868 in Hamburg), zwei Feministinnen der ersten Stunde, die sowohl politisch als auch privat mehr als ein halbes Jahrhundert ein kämpferisches Paar waren und schon bewiesen, dass das Persönliche politisch ist. »Sie fordern gleiche Rechte für Frauen, im Parlament wie im Bett... Sie demonstrieren auf der Straße, debattieren im Reichstag, organisieren Go-ins von Frauen in Wahllokale, initiieren internationale Kongresse. Sie hassen den Nationalismus, den Männerstaat und den Krieg, kämpfen gegen Antisemiten und gegen Kolonialisten, die Farbige für Menschen zweiter Klasse halten. Sie bleiben Kosmopolitinnen und Pazifistinnen, als ganz Deutschland 1914 dem Taumel des Nationalismus und der Kriegseuphorie erliegt... Sie provozieren, argumentieren und amüsieren - auch sich selbst.«
Zwar dürfen Frauen heute wählen, können Mädchen studieren, Chancengleichheit jedoch ist noch längst nicht erreicht, Sexismus nicht erledigt. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Solidarität gerade unter Frauen und vor allem gegen Kriege ist nicht überholt; notwendig bleibt die Utopie einer friedlichen Welt.
Interessant ist diese Doppel-Biografie gerade durch die Verknüpfung des privaten Lebens, des familiären und gesellschaftlichen Hintergrunds mit dem öffentlichen Leben als politisch engagierte Feministinnen: Studium und politische Agitation, ökologische Landwirtschaft auf dem eigenen Bauernhof, die Forderung nach Ausweisung Hitlers bereits 1923, friedenspolitische Arbeit in den USA nach dem Ersten Weltkrieg... Sie investieren ihr Privatvermögen in die politische Arbeit, bis sie mittellos sind. Der Machtantritt der Nazis, auf deren Mordlisten sie stehen, zwingt die beiden ins Exil. Anita Augsburg und Lida G. Heymann sterben 1943; das Ende der Naziherrschaft haben sie nicht mehr erleben dürfen.
Gerda Lerner: Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht. Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Ts. 2002. 332S., geb., 22,90 EUR.
Anna Dünnebier/Ursula Scheu: Die Rebellion ist eine Frau. Anita Augspurg und Lida G. Heymann. Das schillerndste Paar der Frauenbewegung. Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen 2002. 319S., geb., 22 EUR.