Die Mär von der rot-braunen Einheitsfront

Der BVG-Streik vor 70 Jahren

  • Horst Bednareck
  • Lesedauer: 5 Min.
Noch nach sieben Jahrzehnten und trotz vielfältiger gegenteiliger Beweise dient einigen Autoren der BVG-Streik Anfang der 30er Jahre in Berlin dazu, die Mär von einer »Einheitsfront von KPD und NSDAP« aufzuwärmen. Offensichtlich geschieht dies zur Diffamierung der politischen Linken. Es soll deren Politikfähigkeit in der demokratischen Rechtsordnung der BRD abgestritten werden. Doch was geschah 1932 tatsächlich? Seit seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 waren für die 22000 Arbeiter und Angestellten der BVG die Löhne fünf Mal gekürzt worden - der monatliche Durchschnittslohn sank von 220 Reichsmark (RM) auf 160. Nunmehr forderte die Direktion der BVG weitere Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und hielt letztlich an der erpresserischen Forderung fest, den Stundenlohn um zwei Pfennige zu senken. Damit war das Maß voll. Es entstand eine starke Bewegung, um diesen erneuten Lohnraub abzuwehren. Dass die 31 KPD-Betriebsgruppen und etwa 40 Gruppen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) alles in ihren Kräften Stehende taten, um diesen Prozess voranzutreiben, die Interessen der BVGler wahrzunehmen, dürfte niemand wundern. Diese Anstrengungen zeigten Erfolg. Es kam zu einer Urabstimmung über den Streik. Am 2. November beteiligten sich 18537 Arbeiter (85 Prozent) an dieser Abstimmung. Hiervon sprachen sich 14471 Kollegen (79 Prozent) für den Streik aus. Auf der Grundlage dieses mehrheitlichen Mandats wählte noch am gleichen Abend eine Delegiertenkonferenz die zentrale Streikleitung. Ihr gehörten Mitglieder des ADGB, der RGO, Unorganisierte, aber auch zwei Mitglieder der NSBO (Nationalsozialistische Betriebszellen Organisation) an. Man beschloss den Streikbeginn für den 3. November 1932 um drei Uhr morgens. Diese Aktion der BVGler war der Höhepunkt der Streikwelle im Herbst 1932. Er legte den gesamten Straßenbahn-, U-Bahn- und Omnibusverkehr lahm. Hunderttausende solidarisierten sich mit den Streikenden, unterstützten die Streikposten, blockierten Wagen und Strecken. 34 Solidaritätsküchen gaben täglich etwa 7000 Essenportionen für die Streikenden aus, ermöglicht durch Geld- und Lebensmittelspenden kleiner Geschäftsleute. Die bürgerliche Staatsgewalt trat an. Die Polizei attackierte die Streikposten; drei Arbeiter wurden ermordet, viele verletzt. Die meisten Streiklokale wurden von der Polizei besetzt und allein am 5. November etwa 500 Streikposten verhaftet. Die BVG-Direktion drohte mit Massenentlassungen, setzte aber auch sofort einige der aktivsten Streikführer auf die Straße. Auch Funktionäre des »Gesamtverbandes der Arbeitnehmer in den öffentlichen Betrieben« schalteten sich in den Streik ein, um Einfluss auf diesen nehmen zu können. Sie verleumdeten die aufopferungsvolle Arbeit von Kommunisten und erfahrenen Gewerkschaftern wie Karl Binder, Adolf Deter, Erich Fox, Albert Kayser, Kurt Krautter, Otto Schmirgal und andere. Der Kampf der Verkehrsarbeiter hatte als Abwehrkampf gegen Lohnkürzungen und Unternehmerwillkür begonnen. Im Ergebnis führte er an die Schwelle des politischen Massenstreiks heran. Doch unter dem ungeheuren Druck von allen Seiten begann die Streikfront schließlich zu zerbröckeln. Die Protestaktion musste am 7.November 1932 abgebrochen werden. Welche Ausstrahlung, welche Wirkung dieser Kampf auf die Stimmung der Werktätigen hatte, zeigten die Ergebnisse der erneuten Reichstagswahl, die am letzten Streiktag, am 6. November 1932, stattfand. Im Vergleich zu den Wahlen am 31. Juli des gleichen Jahres, erreichte die KPD nun ihren größten Wahlerfolg, wurde nunmehr von sechs Millionen Wählern unterstützt. Die NSDAP verlor zwei Millionen Stimmen. Immer mehr durchschauten den Charakter und die Politik der Nazipartei. Schon in seiner programmatischen Schrift »Mein Kampf« hatte Hitler angedroht, die freien Gewerkschaften zu zerschlagen, und betont, dass die »nationalsozialistische Gewerkschaften... ihren Kampf gegen die marxistischen Gewerkschaften nicht nur als Organisation, sondern vor allem als Idee anzusagen haben. Sie muss in ihr die Verkünderin des Klassenkampfes und Klassengedankens treffen und soll an die Stelle dessen, zur Wahrerin beruflicher Interessen deutscher Bürger werden«. Politisch interessierten BVGlern war bewusst, dass sich die Mitglieder der NSBO nur deshalb am Streik beteiligten, um vor den Arbeitern ihr Gesicht zu wahren. Hitler gestand später selbst offen dieses Manöver ein: »Wenn ich meine Leute von der Beteiligung abgehalten hätte, hätte der Streik doch stattgefunden, aber ich hätte meine Anhänger in der Arbeiterschaft verloren.« Hieraus gemeinsame Positionen zwischen Nazis und KPD abzuleiten, war und bleibt dumm - und die politische Absicht ist wahrlich nicht zu übersehen. KPD und NSDAP waren unversöhnliche Gegner. Die Mitglieder der Streikleitung Albert Kayser und Otto Schmirgal starben wie viele andere Gewerkschafter in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis. Es gehört zum politischen Anstand, dass die Gewerkschaft ver.di und die Direktion der BVG dafür sorgen, dass die Gedenktafel für die ermordeten BVGler, die jahrelang im Vestibül des BVG-Gebäudes in der Rosa-Luxemburg-Straße jeden Mitarbeiter und jeden Besucher an diese Antifaschisten erinnerte, wieder angebracht wird. Damit ist der Punkt gekommen, wo eine zweite Anmerkung geboten ist: Im Archiv des Bundes der Antifaschisten Köpenick (BDA) befindet sich seit einigen Jahren der persönliche Bericht von Karl Binder über den BVG-Streik. Er war 1932 gewerkschaftlicher Vertrauensmann der Belegschaft und Mitglied des Streikkomitees des Bahnhofs Köpenick sowie Mitglied der zentralen Streikleitung. Natürlich wird hier der Blick in besonderer Weise auf den Bahnhof Köpenick gerichtet. Aber auch hier führt jeder nachträgliche Versuch, die Arbeit der Kommunisten und aktiven Gewerkschafter mit dem Manöver der Nazis gleichzusetzen, ins Absurde. Karl Binder gab seinen Kampf weder nach dem Abbruch des Streiks noch nach der Errichtung der Nazidiktatur im Januar 1933 auf. Bis 1936 führte er in Köpenick den illegalen antifaschistischen Kampf gegen den faschistischen Terror und die drohende Kriegsgefahr weiter. Die Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus und zwei Jahre erpressten Dienst in der »Bewährungseinheit 999« sind gewiss kein Indiz für eine »Einheitsfront von KPD und Nazis«. Deshalb hier das Angebot für Interessenten: Der Bericht kann im vollen Umfang (8 Seiten) im BDA Köpenick eingesehen werden.

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