Sherry statt Wick MediNait

Frei verkäufliche Medikamente sind nicht so wirksam wie der Verbraucher denkt

Knapp die Hälfte aller frei verkäuflichen Medikamente werden von Fachleuten als wenig geeignet betrachtet, die angezeigten Beschwerden zu bekämpfen. Das ist das Fazit des »Handbuches Selbstmedikation«, das gestern in Berlin von der Stiftung Warentest vorgestellt wurde.

Sie sind ganz und gar nicht harmlos, die 680 Millionen Packungen von Pillen und Pülverchen, die jedes Jahr ohne Rezept über deutsche Apothekentische gereicht werden und mit denen sich die Verbraucher selbst kurieren. 4,3 Milliarden Euro geben sie dafür aus, etwa ein Fünftel des Betrages, der bei den gesetzlichen Krankenkassen für verschreibungspflichtige Medizin anfällt. Experten beurteilen mit 40Prozent einen beträchtlichen Teil der selbst gekauften Arzneien als wenig wirkungsvoll, einige sogar als schädlich. Eine so negative Beurteilung trifft im übrigen bei den verschreibungspflichtigen Medikamenten nur auf 25Prozent zu. Wie schon beim Handbuch Medikamente - von der Industrie mit Häme und Klagen überzogen - wird auch dieses Werk von den Herstellern der Pharmazeutika nicht begrüßt, während Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sein Erscheinen mit Freude sieht, weil es in ihr Konzept vom »mündigen Verbraucher« passt. Der könne sich nun besser informieren, bevor er in der Apotheke einkaufe. Sie kündigte die Einführung der Gesundheitskarte an, auf der Patienten auf freiwilliger Basis ihre Medikamente speichern ließen. So erhöhe sich die Arzneimittelsicherheit. Schmidt sprach auch von Veränderungen im Preisgefüge der Apotheken. Details wollte sie noch nicht nennen, es stehe aber fest, dass die Beratung der Patienten dadurch eine größere Bedeutung gewinne. Hört man die Beispiele der fragwürdigen Tinkturen und Tablettchen, die besonders jetzt in der Grippezeit vom arglos Verschnupften zu sich genommen werden, kommt man zu dem Schluss, dass dies verdammt nötig ist. Schlussgutachter Gerd Glaeske, renommierter Arzneimittelforscher der Universität Bremen, verwies auf einige Beispiele aus den Untersuchungen der Mediziner, Pharmakologen, Apotheker und Biologen, die insgesamt 1500 meistverkaufte nicht verschreibungspflichtige Mittel nach therapeutischer Wirksamkeit und dem Risiko-Nutzen-Verhältnis bewerteten. Die üblicherweise als Grippemittel angebotenen Präparate wie Wick MediNait, Wick DayMed, Doregrippin, Rhinotussal oder Grippostad C seien fast alle nicht sinnvoll zusammengesetzt und daher nicht zu empfehlen, so Glaeske. Er zeigte sich völlig erstaunt darüber, dass ein Medikament wie Wick MediNait angeboten würde, das immerhin 18Prozent Alkohol enthalte - so viel wie ein Sherry. Grippostad C oder Rhinotussal hingegen enthielten müde machende Antihistaminika, die sich negativ auf die Konzentration, z.B. bei der Arbeit oder im Straßenverkehr auswirkten. Erschreckend ist die Bilanz der Experten auch bei den Schmerzmitteln. Hier werden eine ganze Reihe Präparate mit Koffein angeboten. Das aber wirkt leicht anregend, die Mittel werden mehr als notwendig eingenommen und können auf die Dauer zu Nierenschädigungen führen. Bei 2000 bis 4000 von insgesamt 52000 Dialyse-Patienten geht man von einer so genannten Analgetika-Nephropathie aus, einer durch hohen Schmerzmittelkonsum entstandenen Nierenschädigung. Die Bewertung »wenig geeignet« gelte daher für Neuranidal, Migränin oder Optalidon, Ausdrücklich nannte Glaeske auch Thomapyrin als wenig geeignet. Er frage sich, wieso die Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft ausgerechnet dieses Mittel empfehle. Er halte es für ratsam, die Industrienähe und die personelle und finanzielle Ausstattung einiger so genannter Fachgesellschaften zu überprüfen. Als völlig unverständlich bezeichnete der Arzneimittelspezialist die Wirkstoffkombination im Schmerzmittel Togal Tabletten. In ihm würde Acetylsalicylsäure (ASS) mit Chinin und Lithium gemischt, eine völlig »obsolete« Zusammensetzung. Weder Chinin noch Lithium trügen sinnvoll zur Schmerzbehandlung bei. Ganz bedenklich wird die Medikamentenlage in Sachen Halsschmerzen. Alle der häufig selbst gekauften Mittel - darunter Dobendan, Dorithricin, Frubienzym und Trachisan - wurden in der Rubrik »wenig geeignet« eingeordnet. Handelt es sich um eine Halsentzündung, seien sie nicht ausreichend; liege keine Entzündung vor, seien Antibiotika oder Enzyme überflüssig. »Sinnvoll«, so Glaeske, »wäre ein Mittel gegen Schmerzen beim Schlucken, z.B. mit Licodan. Das gebe es aber auf dem Markt nicht. Der Halsschmerzgeplagte sollte auf Lutschtabletten mit Kräutern zurückgreifen, das dürfte auch billiger sein. Zur Schnupfen-Behandlung fanden die Herausgeber eine Reihe von Mitteln, die kurzfristig Erleichterung schaffen ( z.B. Nasentropfen ratiopharm, Olynth, Otriven). Allerdings enthielten manche von ihnen Konservierungsstoffe, die sich negativ auf die Nasenschleimhaut auswirken. Unkonserviert seien die Nasensprays K und E ratiopharm. Auch sie sollten nur kurzfristig angewendet werden, sonst komme es zur Abhängigkeit und zum dauerhaften »Medikamentenschnupfen«. Die preiswertere Lösung ist hier die mit Salz. Gerd Glaeske verwies auch auf die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse der WHI-Studie (Womens Health Initiative), die im Zusammenhang mit Hormongaben an Frauen in der Menopause einen Anstieg von Herzinfarkten, Schlaganfällen und Brustkrebs belegt. Sie seien als Prävention für gesunde Frauen nicht zu empfehlen. Allerdings gebe es bisher auch keine ausreichenden Belege für Wirks...

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