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- MEINUNGEN zu den Beiträgen von Christa Seifert „Nur mit Ratio geht es nicht“ und Ute Osterkamp „Marxismus und Psychologie – Wer hat da was versäumt?'
Das vielkultivierte Gerücht von der nun einmal so seienden Menschennatur
Was aber ist unsere Natur?
Der Mensch in seiner jetzigen Verfassung gefährdet Natur und Gesellschaft, letztlich sich selbst. Antriebskräfte aus Egoismus, Selbstbestätigung, Machtbedürfnis und Selbstbestimmung sieht Christa Seifert dafür verantwortlich. Sie geht davon aus, daß diese Eigenschaften/Verhaltensweisen bereits in der Genstruktur präsent sind, da sie sich über Generationen im jeweiligen Kulturkreis entwickelt haben, und so müsse man sie in jede Planung der Zukunft einkalkulieren. Sie fordert eine „unerhörte geistige Anstrengung zur Selbstbändigung der menschlichen Natur“. (ND-Forum vom 29./30. September)
Ute Osterkamp wehrt sich dagegen, Ursache und Wirkung von Unterdrückung zu verkehren. Sie meint, daß solche auf die unmittelbare Lebensabsicherung gerichteten Bedürfnisse nach Aufhebung der Fremdbestimmung überflüssig werden. Man müsse dem Menschen die selbstschädigende Wirkung seiner Verhaltensweisen vor Augen führen und gleichzeitig die Verhältnisse ändern. (ND-Forum vom 677. Oktober)
Mir scheint hingegen:, Der Mensch ist nicht nur Opfer von „realen Zwängen“ und „Fremdbestimmung“, sondern vor allem Täter im Hinblick auf das Zusteuern in die ökologische Katastrophe. Er identifiziert sich mit dieser Wohlstandsgesellschaft. Würde der Mensch nach Wegfall der Fremdbestimmung auf sein Auto verzichten? Kann er wirklich nicht anders, als „das, was einem aufgezwungen ist, selbst zu wollen“, um die Erniedrigung abzuschwächen (Osterkamp)?
Mir scheint, die Arbeiter haben ihren Frieden mit dem Kapital geschlossen, zumindest solange sie nicht arbeitslos sind. Es be-
steht weitgehende Identifikation mit der Wegwerfgesellschaft. Wäre der Siegeszug der kapitalistischen Marktwirtschaft durch Europa ohne die wohlwollende Unterstützung der Massen möglich gewesen? Warum ist keine der großen Volksparteien gezwungen, wirkliche Alternativkonzepte zu ihr zu entwickeln? Mit ihrer Unterdrückung und der Fremdbestimmung könnten die Menschen noch eine Weile zurechtkommen, wenn wir nicht so rasant unsere Welt zugrunde richten würden.
Die großen Ideale Freiheit, Fortschritt und Glück – was bedeuten sie heute der Mehrheit der Menschen in der Ersten Welt? Bei Hegel noch hieß es: „Frei bin ich, wenn ich bei mir selbst bin. Denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein anderes, das ich nicht bin.“ (Vorlesungen über die Philosophie 1830) Das Motto der ÄAA 1990 in Berlin dagegen lautet: Auto ist Freiheit! (Nach Hegels Definition macht es uns abhängig.) Wir verstehen , es auch so: Freiheit ist Leistung! Freiheit ist Reisen! Mit Fortschritt verbindet sich für uns heute Kernfusion, Telekommunikation, Technik schlechthin. Es ist wohl schon Technomanie! Wenn das alles Folge der Fremdbestimmung in unserer Geschichte ist und nur die Verhältnisse geändert werden müßten, so bleibt doch die Frage: Wo ist die Kraft, die das tut? Wer will eine Regierung, die uns in unserem Wohlstand beschränkt, der uns kaputtmacht?
Zweitens: Der Mensch ist menschheitsgefährdend. Die Geister, die er rief, wird er nicht mehr los. Er hat die Atome entfesselt, chemische Strukturen verändert und greift nun nach der „Programmierung“ des menschlichen Lebens – Gentechnik. Zweifellos ist die Mehrheit der Wissenschaftler von heute durch Robert Jungk (Der Atomstaat) treffend charakterisiert: „Das sind ?
nicht mehr die geduldigen, bescheidenen, verantwortungsvollen Forscher, denen die Naturwissenschaften ihre Geltung verdanken, sondern Unternehmer und Manager in Sachen Wissenschaft, die es verstehen, den Staat und die Wirtschaft für ihre abenteuerlichen Vorhaben einzufangen.“
Aber wie bescheiden sind die Wissenschaftler je gewesen? Trieb den Entdecker des Hebelgesetzes in der Stadt Syrakus 200 v. u. Z. Existenzsicherung unter Fremdbestimmung auf die Suche nach einem Punkt außerhalb der Erde, um sie aus den Angeln heben zu können? Was war der Antrieb der Computerfanatiker, die es nach Jahren vor dem Bildschirm schafften, in der Mattscheibe zu verschwinden? War es nur das große Geld, der Zwang der Prof itmacherei ?
Wenn mein Vater das Auto benutzt, ist er objektiv menschheitsgefährdend. Welcher „reale Zwang der Existenzerhaltung“ aber veranlaßt ihn, am Montag zu dem Bäcker zu .fahren, der als einziger im Bezirk an diesem Tag offen hat, um frische Brötchen zu frühstücken!?
„Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines.“ (Friedrich Hölderlin)
Es geht also sehr wohl darum, daß wir unsere Antriebskräfte zurückverfolgen, um zu ergründen, warum sie dominierend wurden. Es reicht auch nicht aus, Rauchgasentschwefelungsanlagen und Katalysatoren zu bauen, weil damit nicht geklärt wird, warum die Menschen die Natur vergessen haben, was implizit bedeutet, daß der Kreislauf nicht durchbrochen werden kann. Der Mensch vernichtete keineswegs nur unter Fremdbestimmung die Biosphäre, der Kapitalismus aber wurde letztlich in der Zuspitzung das Instrument der Vernichtung. Er ist aber nicht der entscheidende Antrieb. Bahro: „Wohl gibt es Raffkes, weil es den Kapitalismus gibt. Aber zuvor haben die Raff-
kes, die damals noch zivilisatorische Pioniere waren, den Kapitalismus durchgesetzt.“
Es geht nicht nur um eine Selbstbändigung der menschlichen Natur, denn eine Fessel könnte man sprengen. Es geht um die Frage: „Ist das unsere Natur? Kann man sie ändern?“
BERT PAMPEL,
Student für Politologie an der Freien Universität Berlin
Nicht Verzweiflung, wohl aber begründete (Selbst-)Zweifel sollten uns abhalten, in die Nähe aufklärerischer Pose zu geraten. „Definitive Einsichten“ sind längst verschlissen und in gehabter Weise nicht wieder zu erlangen.
Dies gilt um so mehr, als es im Kern um nichts anderes geht, als um das – leider auch in der Wissenschaft z. T. kultivierte – Gerücht von der nun einmal so seienden Menschennatur. In dieser Frage sollte man nicht hinter die zurückgehen, die sich mit unterschiedlichsten Resultaten seit langem um die Verbindung von Marxismus und Psychologie bemühten und bemühen. (Frankfurter Schule, Kulturhistorische Schule, Kritische Psychologie, Strukturalismus etc.) Auch einzelne Wissenschaftler unseres Landes gehören dazu. In vielem sah man von derartiger Warte jedenfalls schon sehr früh, woran realsozialistische Praxis und marxistisch-leninistische Legitimatonsideologie krankten. Deshalb: Großen Dank an Ute Osterkamp, deren Artikel' nun doch eine fundierte Auseinandersetzung ermöglicht
Dr. BERND WESTERMANN, Berlin, 1055
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